Jenseits aller Tabus
Grübeln. Gedankenverloren schaute sie aus dem Fenster.
Lucille wollte nichts lieber als endlich die Arbeit machen, für die sie all die Jahre studiert hatte. Ihre Träume waren bescheiden und drehten sich lediglich um einen Ein-Frau-Betrieb. Eines Tages würde sie sich selbstständig machen und sich um die Gärten ihrer eigenen Kunden kümmern. Mehr wollte sie gar nicht.
Doch bis sie ihr Ziel angehen konnte, musste sie diesen Job überstehen. Nach dem Prozess gegen Richard Dawson würde sie bei null anfangen. Der Gedanke schmerzte, er war niederschmetternd, und sie fragte sich, wie oft sie noch die Kraft haben würde, ihren Kopf selbst aus dem Sumpf zu ziehen. Aber sie musste es schaffen! Eine andere Option hatte sie nicht.
Auch wenn es ihr schwerfiel, sie würde die Rolle des Dienstmädchens spielen, versuchen, Patrick nicht an die Gurgel zu gehen und sich von Craig Bellamy nicht reizen zu lassen. Es war wichtig, unauffällig zu bleiben, damit Jack Caruso und die La picadura del escorpión ihren Aufenthaltsort nicht herausfanden. Auch ohne die Warnung des FBI wusste Lucille, dass eine Enttarnung ihren Tod bedeutete.
Als sie sich bückte, um ein Hemd aus dem Wäschekorb zu nehmen, tat ihre Skorpiontätowierung so weh, als wäre sie frisch gestochen worden. Die letzte Behandlung lag bereits zwei Wochen zurück. Dank der neuen Entfernungsmethode, bei der eine Flüssigkeit in die Haut gespritzt wurde, die die Tattoofarbe auflöste und ausspülte, war der Skorpion kaum noch zu erkennen. Lediglich eine Ansammlung von mehr oder minder geröteten Flächen rankte um ihren Bauchnabel, aber auch die würden verschwinden. Wunden brauchten Zeit, um zu heilen, die inneren länger als die äußeren.
Lucille bekam eine Gänsehaut. Instinktiv schaute sie über ihre Schulter in den Korridor, doch er war leer. Das erste Mal in ihrem Leben hatte sie wahrhaft Angst und fühlte sich verfolgt. Aber die bundespolizeiliche Ermittlungsbehörde hatte ihre Zuflucht gut ausgewählt, denn das Bellamy-Anwesen war ebenso bewacht wie die Anlage, in der ihr kleines Apartment lag. Leider führte das auch dazu, dass Lucille sich wie eine Gefangene vorkam.
Aber der Tag, an dem sie Patrick den Stinkefinger und Bellamy ihren blanken Po zeigen konnte, würde kommen. Sie musste sich nur in Geduld üben. Bis zur Erlösung würde sie die Zeit nutzen, um zurück zu sich selbst zu finden.
Lucille ertappte sich dabei, wie sie an Craigs Hemd roch, doch es duftete nicht nach ihm, sondern nur nach Waschmittel. Da Ava sie skeptisch beäugte, begann sie mit der Arbeit.
Zweifel und Unsicherheit ließen die Hand, die das Bügeleisen führte, zittern. Hatte sie noch den Mut für einen weiteren Neuanfang? Lonesome Dove, so hatte Alfie sie manchmal genannt. Sie mochte nicht wieder Lucille Blunt, das einsame Täubchen, sein, aber auch keine Barbie, sondern irgendetwas dazwischen, das im Moment noch im Schatten lag. Die Frau, die sie sein wollte, konnte sie noch nicht klar erkennen.
»Bügeln sollte abgeschafft werden«, sagte sie zu Ava, die verständnisvoll nickte und ein Trockentuch so behutsam faltete, als wäre es nicht aus Baumwolle, sondern aus Blattgold. In Gedanken fügte Lucille bitter hinzu: genauso wie die Liebe.
Ihr Magen krampfte sich zusammen, als sie an die Zeit nach ihrer Verhaftung dachte und an den Schock, als sie erfuhr, wer ihr Ehemann wirklich war.
3. KAPITEL
Oktober, vor drei Tagen, Washington
Lucille war sicherlich die einzige Person in D. C., die sich über den Regen freute, denn dank ihm konnte Special Agent McCarthy nicht sehen, dass sie weinte. Ihre Tränen waren nur weitere Wassertropfen, die über ihre Wangen liefen.
Bestimmt hätte er sich über ihre Heulerei gefreut, denn er traute ihr nicht über den Weg. Er machte keinen Hehl daraus, dass er der festen Meinung war, sie würde mit Richard Dawson unter einer Decke stecken und ihren Ehemann lediglich ans Messer liefern, um ihre eigene Haut zu retten. Dabei hatte das Federal Bureau of Investigation ihr rein gar nichts nachweisen können. Das störte Tadhg McCarthy jedoch ganz offenbar nicht. Er war alt und brummig und seiner Meinung nach so erfahren, dass er auch ohne Beweise die Saat des Bösen erkannte. Von seinen irischen Vorfahren waren bestimmt auch Frauen als Hexen verbrannt worden, nur weil sie rote Haare hatten.
Unbarmherzig zerrte er Lucille durch den Regen über den Vorplatz des J. Edgar Hoover Buildings zu der schwarzen Limousine, die mit laufendem Motor auf sie
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