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Jenseits aller Tabus

Jenseits aller Tabus

Titel: Jenseits aller Tabus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sandra Henke
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Craig die Reederei und diese Villa von seinen Eltern übernommen. Das würde erklären, weshalb er nicht wie ein Geschäftsmann aussah – weil er keiner war.
    Hüte dich davor, ihn zu unterschätzen, ermahnte sie sich, Krokodile haben scharfe Zähne. Ei, was hast du für ein entsetzlich großes Maul? Dass ich dich besser fressen kann. Der große böse Wolf hatte sich als Rotkäppchens Großmutter getarnt und somit harmlos ausgesehen, aber er hatte immer noch tödliche Krallen und Reißzähne besessen. Mit Maskierungen kannte sich Lucille dank Richard inzwischen bestens aus.
    Patrick stellte sich vor das Foto, um ihr den Blick darauf zu nehmen, und musterte sie pikiert. »Fragen über die Familie Bellamy zu stellen ist genauso untersagt, wie in den Privatsachen Ihres Chefs herumzuspionieren und wird …«
    »Mit dem sofortigen Rauswurf geahndet«, führte sie Patricks Satz zu Ende. Bisher hatte sie nur Verbote gehört. Hatten die Angestellten in diesem Haus eigentlich auch Rechte? Lucille wartete nur darauf, dass er ihr mitteilte, sie würde kein Gehalt bekommen, sondern müsse Geld zahlen, damit sie Mr Bellamy den Hintern nachtragen durfte.
    Eine Weile sah der Hausvorsteher sie blasiert an, dann stieß er die Luft aus seinen Lungen aus, als hätte er endgültig seine Meinung über Lucille gefällt. In seinen Augen war sie bestimmt ein hoffnungsloser Fall. Sie hatte nicht einmal das Niveau, um in einem solchen Haushalt zu arbeiten, war sicherlich seine Meinung. Lucille ging davon aus, dass er die erstbeste Gelegenheit nutzen würde, um sie, den faulen Apfel, loszuwerden.
    »Wenn Mr Bellamy etwas wünscht, werden Sie zuerst mich darüber in Kenntnis setzen. Das größte Tabu von allen, Kirby, ist allerdings Mr Bellamy selbst.« Er machte eine Pause, und obwohl er keinen Ton darüber sagte, wusste sie, dass er darauf anspielte, wie sie auf der Treppe über ihre Schulter zu Craig Bellamy zurückgeblickt hatte und errötet war. »Wenn Sie ihm auf dem Korridor begegnen, werden Sie ihn höflich grüßen. Ansonsten sprechen Sie ihn nicht an, sondern antworten nur, wenn er das Wort an Sie richtet. Beim Servieren erwartet er Zurückhaltung. Ein gutes Dienstmädchen wird vom Hausherrn nicht bemerkt.«
    Oh Gott, worauf hatte sie sich nur eingelassen? Aber sie hatte keine andere Möglichkeit gehabt. Das FBI hatte sie vor die Wahl gestellt, bis zum Prozess gegen Richard in Schutzhaft zu bleiben oder ins Zeugenschutzprogramm aufgenommen zu werden. Sie hatte sich für Letzteres entschieden, was gleichzeitig bedeutete: ein fremder Staat, ein Job, bei dem sie untertauchen konnte, und ein neuer Name. Kirby Lamar. Als würde es nicht reichen, sich in ihrem Körper fremd zu fühlen. Sie hatte ihre Extensions entfernt, die schwarze Tönung herausgewaschen und all ihre teure Kleidung an eine gemeinnützige Organisation für Obdachlose verschenkt. Jetzt war sie wieder »ganz die Alte«. Zurück zu den Wurzeln. War das nun ein Grund zum Feiern oder zum Trauern?
    Während sie Patrick folgte, schaute sie im Vorübergehen in einen aufgestuckten Spiegel, der vermutlich sogar mit echtem Gold patiniert worden war. Es blickte ihr die Lucille aus Boston entgegen, das arme Mädchen, das ständig ums Überleben kämpfen musste.
    Auf der einen Seite war sie froh, dass die Kostümierung, die sie in Washington veranstaltet hatte, vorbei war. Die Zeit mit Richard war wie ein täglicher Maskenball gewesen. Lucille hatte höchstens eine Ahnung davon bekommen, was hinter seiner Fassade steckte, und allein das hatte ihr eine so große Angst eingejagt, dass sie nie versucht hatte, ihm die Maske herunterzureißen. Sie hatte sich angepasst, hatte eine neue Lucille ausprobiert und sich von ihrem wahren Ich entfernt. Am Ende war sie gescheitert.
    Auf der anderen Seite wollte sie nicht mehr die junge Frau sein, die nur arbeitete und lernte und doch nicht vorwärtskam. Sie sehnte sich danach, zu genießen, zu leben und zu lieben. Das Pensum, das sie in Boston gestemmt hatte, würde sie nicht mehr lange durchhalten, sobald sie dahin zurückkehren konnte. Es musste Ruhe in ihr Leben einkehren, aber davon war sie zurzeit weit entfernt.
    Geschickt beendete Patrick die Rundführung im Bügelzimmer. Herrschte im Haus auch ein nostalgischer Flair, so waren alle Maschinen hochmodern, das hatte Lucille bereits in der Küche und der Waschküche gemerkt, und es fiel ihr jetzt wieder auf. Sie selbst hatte immer nur ein einfaches Bügeleisen besessen, Richard dagegen hatte ihre

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