Jenseits aller Tabus
durch seine Haare, deren Spitzen die Sonne ausgebleicht hatte.
Lucille reichte ihm die Plastiktüte mit den Beweismitteln.
Es hatte sie drei Tage gekostet, alle Vergleichsproben zu beschaffen, denn sie hatte sich dazu entschieden, Gegenstände mit Fingerabdrücken von ausnahmslos allen Angestellten, selbst von Ava, Cory und Patrick, einzusammeln, um sie als Verdächtige auszuschließen, zumindest redete sie sich das ein. In Wahrheit befürchtete sie, dass jemand, von dem sie es niemals erwartet hätte, versuchte, sie aus der Villa Bellamy zu vertreiben.
Vorsichtig hatte sie Craig auf Michelle Dearing angesprochen, weil Lucille keine Möglichkeit sah, an ihre Abdrücke zu kommen, außer sich mit ihr zu treffen oder – rein zufällig natürlich – ebenfalls in der Reederei hereinzuschneien, wenn sich die Blondine angekündigt hatte. Aber die Innenarchitektin ließ sich wohl seit Längerem schon nicht mehr bei Craig blicken. Wie ihm zu Ohren gekommen war, traf sie sich seit Kurzem mit Dmitri Abrikossow, einem russischen Privatier, und es machte den Anschein, als hätte sie sich einem leichter zu erobernden Territorium zugewandt.
Aber das konnte genauso gut ein Ablenkungsmanöver von ihr sein. Sollte keiner der Proben aus der Villa mit den Fingerabdrücken auf der Fotografie übereinstimmen, würde das neben Caruso auch Michelle in den Fokus rücken. Lucille wollte niemanden ausschließen, sondern die Beweise für sich sprechen lassen.
Nachdem die Bedienung die Kaffees gebracht hatte, nippte Lucille nur daran, denn ihr schlug die Aufregung auf den Magen. Als dann auch noch Tadhg McCarthy plötzlich vom Landesteg des Bootstaxis energisch auf sie zukam und breitbeinig neben dem Bistrotisch stehen blieb, war ihr die Lust auf den Cappuccino endgültig vergangen. Koffein und Adrenalin vertrugen sich nicht.
Selbst Alex wirkte überrascht. »Was machen Sie denn hier?«
Als Erstes fiel Lucille auf, dass die beiden sich siezten, als Zweites, dass Alex keine Ahnung gehabt hatte, dass sein Vorgesetzter auftauchen würde, und drittens der vorwurfsvolle Unterton. Gab es überhaupt jemanden, der McCarthy leiden konnte?
»Ich übernehme. Sie können gehen, Special Agent Fisher.« Mit einer ausladenden Geste bedeutete McCarthy seinem Kollegen, das Feld zu räumen.
Lucille blickte auf die Tragetasche, die Alex auf einen freien Stuhl gelegt hatte. Wenn McCarthy erfuhr, was sich darin befand, würde er toben und sofort alles in den Müll werfen. Er würde entweder ihre Beschuldigungen als Hirngespinste abtun – immerhin hatte er ihr schon einmal seine Hilfe verweigert, als sie ihn gebeten hatte, das Zeugenschutzprogramm abzubrechen, nachdem Alvaro Castillo in ihrem Apartment gestanden hatte – oder das Untersuchen von fremden Fingerabdrücken, von dem weder die Verdächtigen wussten, noch die Analyse zu einer Ermittlung gehörte, als illegal bezeichnen.
Das Bureau gewährt keine persönlichen Gefallen, hörte sie ihn förmlich sagen. Alex Fisher dagegen schon, denn er bemerkte ihren Blick, nahm die Kunststofftüte an sich und zeigte darauf. »Die Souvenirs habe ich in meiner Mittagspause gekauft, Sir.«
Skeptisch schaute McCarthy auf seine Armbanduhr. »Dann haben Sie aber ziemlich früh Pause gemacht.«
»Und werde bis abends durcharbeiten.« Alex salutierte vor ihm wie ein Gefreiter vor seinem Feldwebel, doch es lag ein subtiler Spott in seiner Miene. Ohne die Tasse ein einziges Mal abzusetzen, trank Alex seinen alkoholischen Kaffee aus, nickte Lucille zum Abschied zu und schritt davon.
Danke, danke, danke, rief Lucille ihm in Gedanken hinterher. Der Blondschopf war ein Goldstück! Soweit sie das beurteilen konnte, brachten Männer wie er frischen Wind in die verstaubte bundespolizeiliche Ermittlungsbehörde des Justizministeriums. Sie zählte ihn zur jungen Generation der Bundesagenten, die ihren Dienst zwar ernst nahmen, aber durchaus Ausnahmen machten und Spaß im Leben hatten, während McCarthy verbissen, verbohrt und griesgrämig war.
Trotz ihrer starken Abneigung versuchte Lucille Verständnis für ihn aufzubringen. Wahrscheinlich hatte er schon viele schockierende Verbrechen gesehen und den ein oder anderen Kriminellen laufen lassen müssen. So engagiert, wie er auftrat, musste ihm das mit den Jahren immer mehr zugesetzt haben, vermutete sie. Das machte es jedoch nicht einfacher, mit ihm und seiner permanent schlechten Laune zurechtzukommen.
Mürrisch nahm er auf dem Stuhl, auf dem Alex noch vor Kurzem gesessen
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