Jenseits aller Tabus
mitnimmt. Wer könnte es dir verdenken! Er hat sich schließlich wie ein Schutzschild vor dich geworfen und ist gleich neben dir gestorben.«
Das klang ja, als hätte er die Schießerei mit angesehen, dabei kannte er nur ihre Aussage. Sie trat einen Schritt zurück.
Vermutlich wollte er verständnisvoll sein, doch er fand nicht die richtigen Worte und riss die Wunde, die zwar noch lange nicht verheilt war, aber dank Craigs liebevoller Fürsorge immerhin nicht mehr blutete, erneut auf. McCarthys Tod lag keine dreißig Stunden zurück, trotzdem kam Lucille der Schusswechsel irreal vor, wie ein Ausschnitt aus einem Thriller, nicht wie das wirkliche Leben – zumindest nicht so, wie ihr Leben sein sollte.
»Er ist nicht nur neben mir, sondern für mich gestorben.« Das war es doch, was Alex durch die Blume gesagt hatte. Sie bereute es, vorhin eine Papaya gegessen zu haben, sie lag Lucille mit einem Mal wie ein Stein im Magen.
Alex legte sein Jackett erneut über seinen Arm, nahm ihre Finger und rieb sie zwischen seinen Händen, als wäre ihr kalt. »Es tut mir leid, dass ich nicht da war, als du in Gefahr warst.«
»Du brauchst kein schlechtes Gewissen zu haben.« Alex war ein attraktiver Mann, aber der Körperkontakt wurde Lucille zu viel, daher führte sie ihn in den Salon, wo sie am Tisch Platz nahm.
»Die Waffe hat mich überrascht. Du hast mich überrascht.« Er lachte unsicher, warf sein Jackett achtlos auf einen Stuhl und setzte sich neben sie.
»Oh ja, ich bin die fleischgewordene Lara Croft«, sagte sie ironisch und verdrehte ihre Augen, »die vor Angst so stark zitterte, dass sie danebenschoss.«
»Die Wasserschutzpolizei hat deine Handfeuerwaffe in Gewahrsam genommen, richtig?« Ohne ihre Antwort abzuwarten, fragte er weiter: »Haben sie die SIG an das FBI ausgehändigt?«
Das wusste er nicht? Sie nickte. »Selbstverständlich.«
»Heißt das, du bist jetzt schutzlos?« Er nahm das Feuerzeug, das einem Kugelschreiber nachempfunden war und neben einem mit einer Kerze bestückten Gesteck in der Mitte des ovalen Teakholztischs lag, und machte es an, nur um die Flamme eine Weile zu betrachten; sie flackerte durch seinen Atem. »Oder hast du noch weitere Schusswaffen?«
Sie würde einen Teufel tun und ihm von dem Arsenal im Schutzbunker erzählen. Craig wäre stinksauer, wenn das Federal Bureau of Investigation die Erinnerungen an seinen Vater konfiszieren würde, sollten Exemplare darunter sein, die der bundespolizeilichen Ermittlungsbehörde gehörten und nach Teds Tod hätten zurückgegeben werden müssen. Lucille wusste ja nicht einmal, ob Craig eine legale Erlaubnis zum Führen von Schusswaffen besaß. Hatten Alex’ Vorgesetzte ihn geschickt, um sie auszuhorchen?
Recht kühl antwortete sie: »Craig beschützt mich.«
»Du solltest ernsthaft überlegen, dir eine neue Pistole zu besorgen, man weiß ja nie.« Er nahm seinen Daumen vom Taster und betätigte ihn sogleich erneut. Ein leises Zischen war zu hören.
Erstaunt über seinen Vorschlag hob Lucille ihre Augenbrauen. »Ich habe keinen Waffenschein.«
»Das ist dir wichtiger als deine Sicherheit?« Über die Flamme hinweg blinzelte er Lucille an.
Jetzt verstand sie seine Nervosität. Er riskierte ziemlichen Ärger, indem er ihr diesen Rat erteilte, zumal die Ermittlungsbehörde ohnehin sauer auf ihn war, wie Lucille am Rande mitbekommen hatte, weil die Person, die unter seinem Schutz stand, beinahe einem Anschlag zum Opfer gefallen wäre. Es grenzte an ein Wunder, dass man ihn nicht von ihrem Fall abgezogen hatte.
Ihr waren seine Andeutungen bezüglich der SIG schon komisch vorgekommen. Jetzt musste sie sich eingestehen, dass sie überreagierte und nur noch in allem böse Hintergedanken vermutete. Die letzten Monate, aber vor allen Dingen die Wochen in Cape Coral hatten sie negativ geprägt. Aber sie nahm sich vor, ab sofort positiver zu denken.
Bei allem Schlimmen, was vorgefallen war, hatte dieser Lebensabschnitt auch etwas Gutes. Hätte sie in Acapulco nicht Richard Dawson kennengelernt und ihn Hals über Kopf geheiratet, hätte das FBI ihn nicht verhaftet, sie nach langen quälenden Vernehmungen für unschuldig befunden und ins Zeugenschutzprogramm nach Florida geschickt. Somit hätte sie niemals den Mann getroffen, der sich als ihr wahres Schicksal entpuppt hatte. Bei ihm hoffte sie den Frieden zu finden, der ihr bei ihrer Mutter, ihren Pflegeeltern, später allein in Boston und dann bei Richard verwehrt geblieben war.
Lucille fühlte
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