Jenseits aller Tabus
Arm, doch sie wagte nicht, ihn von ihrem Hals wegzuziehen, denn er übte zur Drohung mehr Druck aus. Sie spürte die Klinge bereits an ihrer Haut. Innerhalb von einer Sekunde konnte sie tot sein. Ihre Beine zitterten, aber sie bemühte sich, Haltung zu wahren. »Es ist erst zu Ende, nachdem du deinen letzten Atemzug getan hast«, pflegte Richard zu sagen. Er und seine Weisheiten, dachte Lucille und schaute Hilfe suchend zu Craig. Aber er war nicht in der Lage, sie zu retten. Wenn er auch nur einen Schritt auf sie zumachte, würde der Südamerikaner ihr ohne zu zögern die Kehle durchschneiden. Unglücklicherweise hatte er etwas gutzumachen. Schon zweimal hätte er Lucille umbringen sollen, doch beide Chancen hatte er verpatzt.
Ein drittes Mal würde ihm dieser Fehler garantiert nicht unterlaufen.
Irgendwo in der Nähe musste die Pistole liegen. Unauffällig streckte Lucille ihren Fuß danach aus, um die Waffe zu Craig zu kicken. Aber sie spürte sie nirgends. Dafür roch sie Alvaros Atem umso intensiver, er musste vor Kurzem eine Zigarre geraucht haben – im Beisein von Alex, was erklärte, weshalb die Kleidung des Bundesagenten nach Rauch stank.
»Ist es nicht traurig, Mr Bellamy.« Alvaros Stimme troff vor Ironie. »Erst verlieren Sie Mommy auf tragische Weise, dann Daddy und nun auch Ihre große Liebe.«
Craigs Gesicht verzog sich zu einer Fratze aus Wut und Verachtung.
Als Lucille spürte, wie die Klinge ihre Haut am Hals einritzte, war sie so entsetzt, dass sie stocksteif stehen blieb und ihre Augen aufriss. Craig machte einen Satz nach vorn, doch Alex boxte ihn in den Bauch, sodass er sich krümmte.
»Ich würde das nicht tun«, bellte Alvaro und schnitt Lucille an einer anderen Stelle.
Schockiert hielt sie die Luft an und horchte in sich hinein. Zu ihrem eigenen Erstaunen empfand sie Erleichterung. Die Situation war fürchterlich, aber sie begriff, dass der Latino ihr nur Angst einjagen und sich an Craigs Verzweiflung weiden wollte. Noch hatte er nicht vor, sie zu töten, sondern er genoss es, mit ihr zu spielen.
Leise stieß sie ihren Atem aus, verwirrt über die Tatsache, dass sie nicht vor Angst ohnmächtig wurde.
Die Wunden taten weh, aber nicht mehr als ein Rasiermesser, das ihre Oberschenkel zeichnete. Ihre Mutter hatte sie schon in jungen Jahren an Schmerz gewöhnt, auch ihre Pflegeeltern hatten sie oft mit einem Pantoffel verprügelt – Lucille war mit körperlicher Gewalt aufgewachsen, und sie fragte sich, ob das der Grund war, weshalb sie nicht zusammenbrach.
Als ihre Mom sie mit dem Messer die ersten Male malträtierte, hatte sich Lucille die Seele aus dem Leib geweint. Doch je öfter es geschah, desto apathischer nahm sie es hin, bis es nach einer Weile zu einer Art Ritual wurde, das sie gleichgültig über sich ergehen ließ. Eine Klinge erschreckte sie nicht sonderlich. Hätte Alvaro davon Kenntnis gehabt, hätte ihm das den Spaß ziemlich verdorben.
Überrascht stellte sie fest, dass sie klar denken konnte. Am liebsten hätte sie Craig zugerufen, dass es ihr unter den gegebenen Umständen einigermaßen gut ging, aber sie brachte kein einziges Wort heraus, weil ihre Lippen stark bebten.
Craigs Körper war so angespannt, dass die Sehnen an seinem Hals und seinen Unterarmen hervortraten. Im Ausfallschritt stand er da, offensichtlich auf einen kurzen Moment der Unachtsamkeit bei seinen Gegnern lauernd. Lucille wusste, dass er vergeblich hoffte.
Sie hatten nur eine Überlebenschance, wenn etwas oder jemand Alex und Alvaro ablenkte. Aber bis auf Patrick befand sich niemand im Haus, und der Butler kam für gewöhnlich abends nicht mehr aus seinem Kellerapartment, da er Lucille und Craig ihre Zweisamkeit gönnte und sowieso zeitig schlafen ging, um früh aufzustehen und der Sechsuhrschicht ihre Aufgaben mitzuteilen. Die Wachmänner hatten schon zu Abend gegessen und würden erst am Morgen wieder die Villa betreten.
Wir wollten ja unbedingt unsere Privatsphäre haben, dachte Lucille zerknirscht und kämpfte gegen die aufkeimende Panik an, die langsam ihre Wirbelsäule emporkroch.
Niemand würde kommen und Alex und Alvaro stören.
Plötzlich keimte eine Idee in Lucille auf. Wenn von außen keine Ablenkung zu erwarten war, musste sie eben selbst dafür sorgen. Das war Irrsinn, verrückt, lebensmüde! Aber sterben würde sie ohnehin, ob nun eine Minute früher oder später, machte da auch keinen Unterschied.
Was war Richard nicht müde geworden zu betonen, wenn er ihr einige Kampfgriffe
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