Jenseits aller Tabus
in diese Situation gebracht und somit alle gegen sie aufgebracht, ja regelrecht aufgewiegelt hatte. Noch immer weigerte sie sich, Mad zu verpetzen, da sie das mit ihr selbst regeln wollte. So hatte sie es in der Pflegefamilie gelernt, so würde sie es auch beibehalten.
Ein einziges Mal hatte sie jemanden verraten, als sie neu zu den Pflegeeltern gekommen und beschuldigt worden war, eine Zigarette des Vaters geraucht zu haben. Obwohl sie den wahren Schuldigen, einen älteren Jungen ohne Schneidezähne, benannt hatte, glaubte man ihr nicht und bestrafte sie zusätzlich für die vermeintliche Lüge.
Diese Wunden waren verblasst, andere hingegen waren nie richtig verheilt. In schmerzlicher Erinnerung legte sie ihre rechte Hand auf ihren Bauchnabel, und ihre linke glitt über die Rückseite ihres Oberschenkels, als wollte sie ihr Kleid glätten.
Den Schmerz, den sie beim Anblick von Michelle und Craig empfunden hatte, konnte sie beinahe körperlich spüren. Was war nur los mit ihr?
Sie war nicht einmal bereit dazu, sich jetzt schon auf einen neuen Mann einzulassen, auf Bellamy sowieso nicht, das würde ihr nur Ärger einbringen. Wieso verspürte sie dann den Wunsch, einen von Craigs nostalgischen Essstühlen an der Wand zu zerschmettern oder herauszufinden, was mehr Schaden davontrug, wenn sie aufeinandertrafen, sein kostbares »Royal Doulton«-Porzellan oder das teure Nussbaumparkett in der Bibliothek?
»Ich hab dich schon überall gesucht.« Wie aus dem Nichts tauchte Ava auf. Mit großen Schritten kam sie zu Lucille und schaute sich verschwörerisch um. »Patrick hat gesagt, wir beide sollen die gefühlten tausend Gläser in den Vitrinen im Salon polieren. Das wird sowieso jede Woche einmal gemacht. Als ob sie in der kurzen Zeit hinter Glas verstauben könnten.« Sie senkte ihre Stimme. »Die Arbeit sparen wir uns, fällt eh niemandem auf.«
»Bist du sicher?«
»Wenn ich an der Reihe bin, mache ich das nie. Diese Siyphosarbeit überlasse ich dem dummen Schaf Madison.« Ava kicherte und fasste Lucilles Handgelenk. »Ich habe eine Überraschung für dich.«
10. KAPITEL
Skeptisch ließ Lucille sich zur Treppe ziehen. »Ich möchte wissen, was du vorhast.«
»Dann wäre es ja keine Überraschung mehr.«
Demonstrativ blieb Lucille am Treppenabsatz stehen. Seitdem das FBI ihr Apartment gestürmt und ihr Leben zerstört hatte, war ihr unwohl, wenn sie nicht wusste, was auf sie zukam. »Sag es mir, sonst gehe ich keinen Schritt weiter!«
Ava verdrehte ihre Augen. »Du hast versprochen, Schiedsrichter zu sein, aber wir haben heute keine Lust auf das Simon-sagt-Spiel. Es reicht, wenn du uns zuschaust.«
»Ihr wollt heute schon wieder …« Neid erwachte in Lucille. »Ihr habt doch gestern erst …«
»Wir lieben uns fast jeden Tag.« Verschmitzt lächelte Ava. »Da wir es doch beide wollen, warum sollten wir uns zurückhalten?«
Lieben, dieses Wort hallte in Lucilles Gedanken wider. Ihr fiel Corys Telefonat ein, das er auf dem Boot geführt hatte. Einen Moment lang überlegte sie, ob sie Ava jetzt, wo Erregung und Sehnsucht sie erfüllten, mit der Wahrheit konfrontieren und somit verletzen sollte. Womöglich reagierte Ava sich in einem Eifersuchtsdrama ab oder brach zusammen; Lucille konnte ihre Reaktion und die Konsequenzen nicht einschätzen. Aber ihr Gerechtigkeitssinn siegte. Sie musste ihre neue Freundin vor Schlimmerem schützen. Hoffentlich war Ava nur verschossen und noch nicht ernsthaft verliebt.
Sie nahm Avas Hand zwischen die ihren und rieb sie gefühlvoll. »Ich muss dir etwas beichten, etwas, das dir nicht gefallen wird, doch es geht nicht anders. Vielleicht ist der Moment der falsche, aber ich kann nicht warten. Freunde sind ehrlich zueinander, nicht wahr?«
»Du machst mir Angst, Kirby.«
Bei dem Namen zuckte Lucille innerlich zusammen. Was faselte sie von Freundschaft und Ehrlichkeit? Ava wusste gar nichts über sie, nicht einmal ihren richtigen Vornamen. Ihr schlechtes Gewissen hätte sie beinahe einen Rückzieher machen lassen, doch dann holte sie tief Luft und klärte Ava darüber auf, dass Cory auch mit einer anderen Frau schlief und sogar tiefe Gefühle für sie hegte.
Nachdem Lucille alles erzählt hatte, trat eine bedrückende Stille ein.
Ava schob mit einem Finger ihre Wangentasche in den Mund und knabberte an der Innenseite. Ihr Blick richtete sich nach innen, nach einer Weile klarte er auf, und sie entzog Lucille ihre Hand. Sie schaute in alle Richtungen, prüfend, ob auch
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