Jenseits aller Tabus
niemand sie belauschte. »Ich weiß Bescheid.«
Lucille riss ihre Augen auf. »Du weißt es?«
»Nun ja, wie soll ich das sagen …« Ava zögerte. »Bitte denk jetzt nicht schlecht von mir … von uns. Ich bin nicht Corys heimliche Geliebte, mit der er fremdgeht.«
Pikiert verschränkte Lucille ihre Arme unter ihren Brüsten. Eben noch hatte sie gedacht, dass Ava die Leidtragende wäre, jetzt schien sie plötzlich diejenige zu sein, die etwas Falsches tat. Etwa aus Liebe zu dem Brasilianer? »Es macht aber den Anschein.«
»Cory ist mit jemandem liiert, aber die Beziehung ist nicht so einfach.«
»Oh, nach dem Motto: Meine Frau versteht mich nicht. Solche Typen kenne ich, die wollen nur …«
»So ist er nicht!«, fiel Ava ihr ins Wort und wirkte so energisch, dass Lucille versucht war, ihr zu glauben. »Wir sind alle drei im Bilde über die Situation. Cory und ich, wir schlafen nicht heimlich miteinander.«
»Und du bist damit zufrieden?« Das konnte Lucille nicht glauben, dafür investierte Ava zu viel Gefühl.
Ava zuckte mit den Achseln. »Im Moment schon, aber ich bin nicht blauäugig; mir ist bewusst, dass das nicht ewig gut gehen wird. Bei einer Dreiecksgeschichte bleibt immer jemand über kurz oder lang auf der Strecke. Bis dahin habe ich meinen Spaß.«
Sie kämpft um Cory, stellte Lucille fest, mit den Waffen einer Frau. »Wer ist die andere?« Das Wort Konkurrentin vermied sie, weil es Schmerz barg. Unweigerlich dachte sie an Michelle Dearing, die sich in diesem Augenblick aufreizend gekleidet mit Craig in seinem Schlafzimmer befand, angeblich wegen der Tapeten, doch in Wahrheit plante sie, ihn zu verführen. Eine Frau auf einer Mission. Zornig biss sich Lucille so fest auf ihre Unterlippe, dass es wehtat.
»Das tut nichts zur Sache. In meinem Leben spielt nur Cory eine Rolle.« Wie zum Gebet legte Ava ihre Handflächen aneinander. »Er ist kein mieser Kerl, der mich ausnutzt, um Sex zu bekommen. Auch er empfindet viel für mich, aber eben auch für …« Seufzend ließ sie ihre Arme hängen. »Für uns alle drei ist die Situation nicht einfach, aber okay.«
Lucille schüttelte ihren Kopf, weil sie das nicht nachvollziehen konnte. Entweder man liebte oder man liebte nicht. Ihre Sehnsüchte hatten sich immer nur auf eine Person konzentriert.
Allerdings hatte auch sie schon festgestellt, dass manche Dinge komplizierter waren. Das traf wohl auch auf die Liebe zu. Was mochte Craig für Michelle empfinden? Widerstand er gerade ihren Reizen, oder ergriff er die dargebotene Chance beim Schöpfe?
Lucilles Eingeweide krampften sich zusammen. Aufgebracht nahm sie Avas Hand und stieg mit ihr in den Keller hinab, wo sich die Fitnessräume befanden. Vielleicht würde sie sogar bei Avas und Corys Liebesspiel mitmachen oder sich zumindest streicheln, während sie die beiden beim Sex beobachtete. Ein Orgasmus täte ihr jetzt gut, denn Wut, Enttäuschung und Kummer wechselten sich in Sekundenschnelle ab. Eifersucht? Auf keinen Fall. Sie kannte Craig ja kaum.
Lucille knirschte mit den Zähnen. Wahrscheinlich würde sie am Ende doch nur Voyeurin gewesen sein, denn Hand an Cory, Ava oder sich selbst zu legen war im Grunde nicht das, was sie begehrte.
Ava führte sie zum Ende des Korridors, der bis auf ein Notlicht dunkel war. »Mr Bellamy ist bestimmt der Einzige in Florida, der eine Sauna besitzt.«
»Die hat er auch, wenn er vor die Tür geht«, frotzelte Lucille, obwohl sie wusste, dass die Temperatur in einer Sauna zwischen achtzig und hundertdreißig Grad betrug, während es in Florida nur siebenundzwanzig Grad heiß war. Aber für Lucille, die aus Boston stammte und aus dem herbstlichen Washington, D. C., hergeflogen war, fühlte sich die Luft aufgrund der hohen Feuchtigkeit wie siebenunddreißig Grad an.
»Sie ist natürlich nicht in Betrieb, aber hier unten sind wir ungestört«, bemerkte die Küchenhilfe.
Die beiden mussten das Fenster mit einem schwarzen Handtuch abgedeckt haben, denn Lucille konnte nicht ins Innere spähen. Erst nachdem Ava die Tür einen Spaltbreit geöffnet und sie hineingeschoben hatte, sah sie nicht nur die Teelichter auf den Sitzbänken rechts und links, die durch ihr warmes Licht eine behagliche Boudoir-Atmosphäre schafften, sondern auch den splitterfasernackten Cory. Schön wie ein brasilianischer Gott, lag er gegenüber der Tür auf der untersten Bank wie hingegossen da.
Er rollte sich auf die Seite, stützte sich auf dem Ellbogen ab und winkelte sein rechtes Bein an, um
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