Jenseits aller Vernunft
Nachmittag für sich gehabt hatten. Manche von ihnen waren mit am Kopf klebenden nassen Haaren und Krawatten oder ihrem Paar Sonntags-Hosenträgern kaum wiederzuerkennen. Auch die Frauen hatten ihre einfachen Baumwollkleider mit Broschen oder Spitzenkragen geschmückt und sich bei ihrem Haar besondere Mühe gegeben.
Ross trug ein Paar schwarze Hosen, ein weißes Hemd und eine schwarze Lederweste. Statt Krawatte hatte er ein Halstuch umgebunden. Er bürstete sich das Haar, verzichtete allerdings auf die Pomade, die die meisten Männer anwandten. Dabei fiel ihm auf, dass sein Haar schon wieder fast zu lang war. Vielleicht sollte er Lydia bitten, es ihm zu schnei...
Er richtete sich gerade auf und starrte die Bürste in seiner Hand an, als kenne er sie nicht. Wie leicht ihm inzwischen ihr Name in den Sinn kam und Victorias immer seltener. Verdammt!
»Lydia, bist du fertig?« rief er in den Wagen hinein.
Sie betrachtete sich im Spiegel und kniff sich in die Wangen, wie Ma es ihr aufgetragen hatte. Ma und Anabeth hatten ihr beim Anziehen geholfen, während Maryne l l und Atlanta auf Lee aufpaßten.
Lydia strich mit den Händen über ihren Rock, um sich davon zu überzeugen, dass es ihn wirklich gab. Aus dem goldbraunen Stoff war das schönste Kleid geworden, das sie je besessen hatte, sogar noch schöner als die, die Ross in Memphis für sie gekauft hatte. Am Hals war es etwas ausgeschnitten, es hatte kurze Puffärmel, das Oberteil war bis zur Taille zu knöpfen, wo eine breite Schärpe, die hinten zur Schleife zusammengebunden war, es vom weiten Rock trennte. Sie besaß nicht genug Unterröcke, um ihn sich bauschen zu lassen, aber er flo ss doch schön um ihre Knöchel.
Ma hatte entschieden, sie müsse ihr Haar tragen, »wie die Natur es vorgesehen hatte«, das hieß offen und lockig. Sie hatten es mit gelben Rosen geschmückt, die vom Fluss ufer stammten. Auch mit Kölnisch Wasser hatten sie sie großzügig parfümiert.
»Lydia?« Ross legte seinen ganzen Verdru ss in diesen Ruf.
»Ich komme«, sagte sie schüchtern und trat hinaus auf die Hinterklappe.
Wenn Ross nicht gerade ärgerlich die Zähne zusammengebissen hätte, wäre ihm vor Staunen der Mund offen stehengeblieben. Die zarte Gestalt seiner Frau war noch nie so deutlich erkennbar gewesen wie in dem fließenden Baumwollstoff. Ihre Haut leuchtete sanft gebräunt im warmen Ton reifer Aprikosen. Ihr Haar... also... ihm fiel ein, dass er ihre wilde Frisur anfangs abstoßend gefunden hatte. Inzwischen mochte er sie so lieber.
Er wischte sich eine Hand am Hosenbein ab und streckte sie aus, um sie herunterzugeleiten, obwohl sie das sonst hundertmal am Tag allein bewerkstelligte. »Ich glaube, sie haben schon angefangen zu essen«, sagte er unsinnigerweise.
»Es tut mir leid, dass du warten muss test. Du hättest ja vorausgehen können.«
»Nicht so schlimm.«
Ihr tapferes Lächeln sank enttäuscht. Es erfolgte nicht das geringste Kompliment über ihr hübsches Aussehen, wie Ma es ihr versprochen hatte. Gefährlich nah den Tränen wäre sie am liebsten wieder umgekehrt, doch sie waren schon bald mitten im Fest. Jede Frau hatte etwas zur Festtafel beigesteuert und ihre Spezialität gekocht; Lydia und Ross bekamen gehäufte Teller zugeschoben.
Noch bevor sie fertig waren mit dem Essen, begannen die Geiger ihre Bögen zu harzen, auch Moses.
Und als die Überbleibsel vom Essen weggeräumt waren, wirbelten schon einige der weniger befangenen Paare zu den lebhaften Weisen herum, die auf Fiedeln und Ziehharmonikas erklangen. Ma klatschte im Rhythmus und sah wohlwollend zu, wie Zeke seinen Becher noch einmal in das Bierfass tauchte, das jemand aus der nächsten Stadt geholt hatte. Sie sagte: »Geht ihr beide nur und tanzt, ich werde solange auf Lee aufpassen.«
Lydia sah zu ihrem Mann auf, der sich eine lange, schlanke Zigarre zwischen die Zähne geklemmt hatte. Sie hatte noch nie getanzt, aber es sah aus, als könnte es Spaß machen.
»Ich habe nie Tanzen gelernt«, sagte Ross ablehnend.
Ma, die ihm am liebsten einen kräftigen Tritt in den Hosenboden verpa ss t hätte, ließ sich nicht einschüchtern. »Das spielt doch keine Rolle. Niemand hier ist Experte. Nehmt einfach Eure Dame beim Arm und bewegt Euch zur Musik.«
»Ich kann auch nicht tanzen, Ross«, sagte Lydia und hoffte, dass ihre Unkenntnis ihm Mut machen würde.
Er sah in ihr Gesicht hinab, auf ihren Körper; er würde es nicht schaffen, seine Arme um sie zu legen, so hübsch wie sie aussah, ohne
Weitere Kostenlose Bücher