Jenseits der Alpen - Kriminalroman
unmittelbar. Ottakring malte sich aus, wie der imposante Mann im Schlafanzug und im Dunkeln durch sein Bett wanderte und erbärmlich fluchte.
»Ob ich Sie höre? Mitten in der Nacht? Ja, wir haben die Überprüfung von Bus und Bahn abgeschlossen, wenn Sie das meinen. Sieht tatsächlich nicht so aus, als habe sie diese Transportmittel benutzt. Aber deswegen müssen Sie mich doch nicht …«
»Haben Sie mit Marta schon Kontakt aufgenommen?«
»Marta? Welche Marta?«
Ottakring ahnte Schreckliches. »Marta Schmidt in Bielefeld. Die Schwester der Ermordeten.«
»Nie gehört.«
Eine Panne! Eine fürchterliche Panne. Er selbst hatte sich bei der Schwester melden wollen. Doch das war vor seinem Unfall gewesen. Wenigstens hätte er jedoch Agnes erinnern sollen, die Sache weiterzugeben oder selbst zu übernehmen.
Das war die Frage, die ihm die ganze Zeit schon durch den Kopf gegangen war. Wieso war Selma Ruspanti von niemandem vermisst worden? Ihr Ehemann hatte sie nicht als abgängig gemeldet, und die Schwester musste Selma erwartet und sich auf ihr Kommen vorbereitet haben. Warum hatte sie also keine Vermisstenmeldung abgegeben?
Er riet Waller dringend, den Kontakt zu Marta herzustellen. Viel zu viele Tage, ja Wochen waren bereits verloren worden. Höchste Zeit zu handeln!
»Was es alles gibt!«, begann Waller am übernächsten Tag am Telefon.
Ottakring hatte bereits den Kopfverband abgenommen bekommen und konnte den linken Arm wieder bewegen. Nur der rechte Arm und das Bein machten noch Schwierigkeiten. Was wieder sauber arbeitete, waren seine Augen, die Ohren und sein Gehirn.
»Es ist alles schiefgelaufen, was schiefgehen konnte«, bekannte Waller. »Wir haben zwei Kollegen von der Bielefelder Kripo zu Marta Schmidt und ihrem Mann geschickt. Ja, sie war von Selma verständigt worden. Deren Mann, also Nunzio, habe sie geschlagen, und sie wolle eine Zeit lang verschwinden. Marta habe mit ihrem Mann gesprochen. Herr Schmidt war einverstanden, dass Selma für einige Zeit bei ihnen bleibt. Aber unter einer Bedingung: keine Polizei. Marta durfte also keine Vermisstenmeldung abgeben.«
»Der Mann hat Dreck am Stecken?«, warf Ottakring ein.
»Das wird gerade überprüft. Aktenkundig ist er nicht. Doch es geht weiter. Marta, so schildern die Kollegen, habe herausgefunden, wo Andrea Colucci lebt. Sie erinnern sich, der Mann –«
»Freilich erinnere ich mich. Ich habe wunde Knochen, keinen Alzheimer. Er war es, der sich nach der Aktenzeichen- XY -Sendung als Erster bei uns gemeldet hat. Und dann?«
Waller hüstelte nervös. Ottakring war sich sicher, dass er in diesem Augenblick das Gesicht verzog und die Goldrandbrille zurechtrückte. »Na ja. Komplizierte Sache, das. Der Colucci spielte vor Selmas Ehe offenbar eine gewisse Rolle in ihrem Leben. Er stand wohl in einer Beziehung mit ihr, als sie noch in Olbia lebte. Bevor sie den Nunzio geheiratet hat. Doch auch danach, als Colucci zu BMW nach München ging, haben die beiden den Kontakt zueinander nicht aufgegeben.«
»Davon hat uns der Colucci aber nichts erzählt«, warf Ottakring ein.
»Nein«, sagte Waller. »Offenbar ein schweigsames Volk, diese Sarden. Jedenfalls hat Marta irgendwann den Colucci in München angerufen und ihn gefragt, ob er von Selma gehört habe.
»Und? Hatte er nicht?«
»Genau. Colucci hatte nichts von ihr gehört. Marta hat sich dann in der Folge große Sorgen gemacht, dass ihre Schwester über Wochen spurlos verschwunden war.«
Ottakring brauchte Klarheit. »Hat sie das selbst gesagt? Den Bielefelder Beamten gegenüber?«
»Ja. Und wir haben uns den Colucci noch einmal vorgeknöpft. Der hat es bestätigt. Er hatte es vorher verschwiegen aus Angst, Martas Mann, Herr Schmidt, würde dann von Coluccis besonderem Verhältnis zu Selma erfahren.«
Waller legte eine Pause ein. Auch Ottakring hüllte sich in Schweigen.
»Alle hielten also dicht«, sagte Waller. »Das ist das Komische. Keiner hat nach der Verschwundenen geforscht.«
Ottakring hakte noch einmal nach. »Habt ihr denn diesen Nunzio noch einmal in die Mangel genommen?«
»Freilich. Nunzio. Schöner Name. Ein seltener Vogel jedoch. Natürlich wurde er von allen möglichen Leuten gefragt, wo seine Frau sei. In jeder Kleinstadt, auch einer sardischen, fällt schließlich auf, wenn jemand tagelang nicht gesehen wird. Und – ob Sie’s glauben oder nicht – er hat überall herumerzählt, sie sei zu ihrer Schwester nach Deutschland gereist. Obwohl er keine Ahnung hatte, dass sie
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