Jenseits der Alpen - Kriminalroman
tatsächlich geplant hatte, dorthin zu reisen. Wir nehmen es ihm sogar ab. Ein Zufallstreffer.«
Ottakring hielt das Telefon in der linken Hand. Und genau diese Hand begann ihm einzuschlafen. Es fühlte sich warm und gemütlich an wie in einem Ameisenhaufen. Er wollte das Gespräch zu einem Ende bringen, wissend, dass er unwirsch klang.
»Waller! Das hilft uns so nicht weiter. Wichtig wäre, endlich zu wissen, wie die Ruspanti von Genua weggekommen ist. Jemand muss sie mitgenommen haben. Diese Person ausfindig zu machen, das würde ich einen gewaltigen Fortschritt nennen.«
Seine Miene verriet grimmige Entschlossenheit. Trotzdem hätte jemand, der ihn näher kannte, bemerkt, dass er eine tiefe Erregung unterdrückte. Vor seinem inneren Auge sah er sich im Münchener Polizeipräsidium den Aufzug zur oberen Etage nehmen, wo sich das Büro seines Vorgesetzten befand.
Zeit seines Lebens – schon in der Schule – hatte Joe Ottakring dazu geneigt, sich Autoritäten zu widersetzen und dagegenzuhalten. Trotz war es nicht, es war Überzeugung, dass er seinem Abteilungsleiter, einem leitenden Kriminaldirektor im Münchener Polizeipräsidium, nun unter allen Umständen beibringen wollte, dass sie es mit einer zusammenhängenden Serie von Kapitalverbrechen zu tun hatten. Bisher drei Taten und ein Täter. Er schilderte die Fälle, die er bisher ausschließlich aus Zeitungsberichten und etlichen Telefonaten kannte.
»Gott steh uns bei, dass wir ihn fassen, bevor er sich etwas Neues einfallen lässt.«
»Ihn, Herr Ottakring? Haben Sie sich schon auf einen männlichen Täter festgelegt?«
Ottakring staunte. »Bei der Brutalität und der gnadenlosen Art der Fälle …«
»Jaja, ist schon gut. Ich habe verstanden. Übrigens: Seit wann rufen Sie Gott an, Ottakring?«
Der überlegte nicht lange. »Nur wenn ich in Stimmung bin«, sagte er. Fuhr dann aber unmittelbar fort. »Ich hatte noch vor der Abreise nach Olbia mit dem BKA gesprochen. Das sei kein Fall für sie, meinten die Herren. Das LKA ist da aufgeschlossener. Da es sich um grenzübergreifende Fälle handelt und sie sich bester Verbindungen nach Tirol und Italien, ebenso zu Interpol, erfreuen, wäre das LKA also bereit, mitzumachen.« Er zögerte kurz. Er war sich nicht im Klaren, wie er die entscheidende Attacke am geschicktesten formulieren sollte.
»Eine SoKo wollen Sie also einrichten«, sagte der Abteilungsleiter nach längerer Überlegung. »In Verbindung mit dem LKA , damit es aussieht, als hätten die es erfunden. Mit uns aus München, weil wir eigentlich zuständig sind. Und mit den Rosenheimern, weil die so eine Art Bindeglied zwischen Süd und Nord darstellen. Volle Besatzung! Mit dem verletzten, aber begnadeten Ermittler Kriminalrat Joe Ottakring als Kopf. Hab ich recht? Oder hätten Sie lieber Waller?«
Ottakring stieß einen Schrei aus. Nicht etwa aus Überraschung, nein, er hatte sich mit dem kaputten Bein am Bettpfosten verhakt. Sein Chef hatte die Sachlage erstaunlich schnell begriffen.
»Passt, Chef! Sie sind zu bewundern, wie Sie in kürzester Zeit den Nagel auf den Kopf getroffen haben.« Ottakring spürte, wie ihm das Blut in den Kopf stieg und wie er rot wurde. »Ist die SoKo damit genehmigt?«
Der Patient hatte einen weiten Blick aus dem Fenster. Auf der anderen Seite des Klinikvorplatzes hob sich in der angehenden Dunkelheit die Silhouette der hundertjährigen Rotbuchen ab, die keinen anderen Baum in ihrer Reichweite duldeten. Durch das rautenförmige Fenster zum Klinikflur hin schimmerte Licht.
»Halt, langsam, Ottakring!«, kam es aus dem Hörer. »Aber gehen Sie mal davon aus, und kommen Sie endlich auf die Beine! Sonst wird Waller die SoKo leiten.«
Rosenheim, Dienstag, 4. April 2000
Die »Sonderkommission Alpen« versammelte sich am Dienstag, dem 4. April 2000, um sechzehn Uhr fünfzehn im Sitzungszimmer der Polizeidirektion Rosenheim. Es war ein regnerischer Tag.
Das LKA hatte lediglich einen einzigen Beamten abstellen können. Er machte einen griesgrämigen Eindruck. Ottakring kannte ihn nicht.
Aus München hatte Ottakring die alten Recken Mayr und Eberl sowie die pfiffige Kriminalkommissaranwärterin Jenny Galland in die Sonderkommission berufen. Waller und Agnes sollten im Selma-Fall von Sardinien aus weiterermitteln, bis der Job getan war. Irgendwo in der Mitte würde man sich treffen.
Den SoKo-Mitgliedern vom Kommissariat 1 in Rosenheim war vom ersten Augenblick an anzumerken, dass sie stolz darauf waren, dabei sein
Weitere Kostenlose Bücher