Jenseits der Alpen - Kriminalroman
nach Sardinien reisen. Da wollte ich schon immer mal hin«, witzelte Lola.
Eine halbe Stunde, nachdem er eingeschlafen war, wachte er wieder auf und wälzte sich im Bett. Mit Mühe drehte er sich zur Seite, schwang einen Arm herum und drückte umständlich auf den Lichtknopf der Lampe neben seinem Krankenbett. Eine Art Blitz hatte ihn dazu gebracht, die Augen zu öffnen. Ein Blitz irgendwo in seinem Gehirn.
Wie kam jemand von einer Insel wie Sardinien aufs Festland und dann weiter nach München? Gut, mit der Fähre nach Genua, und dann? Per Anhalter, das würde passen! Das wäre die Parallele zu den Fällen bei Padua und im Pustertal. Auch Naomi und Amelie waren per Anhalter unterwegs gewesen. Natürlich hätte sie auch mit der Bahn oder mit dem Bus weiterkommen können. Sie würden also sämtliche Zug- und Busbahnhöfe überprüfen müssen. Er kannte Waller oder auch Agnes nicht gut genug, um einschätzen zu können, ob sie diese Möglichkeit in Betracht zogen.
Erst als er den Grund für den Blitz in seinem Gehirn gefunden hatte, löschte er das Licht und legte sich wieder hin.
»Scheiß-Unfall«, murmelte er bitter vor sich hin. Er war nicht einmal fähig, sich selbst richtig über den Kopf zu streichen, so wie er es von Lola gewohnt war. Seine Gedanken flogen zu ihr hin.
Lola Herrenhaus wird 1963 in Rosenheim geboren. Die Stadt liegt am grünen Inn, hat damals um die fünfzigtausend Einwohner und zwei Privatbrauereien und gibt sich eher urbayerisch als weltoffen. Ihre glückliche, unbeschwerte Kindheit unter der Fürsorge ihrer religiösen und gebildeten Mutter endet für Lola bereits mit neun Jahren, als die Mutter stirbt. Das zarte Mädchen mit den Zöpfen und den wasserblauen Augen wird tief und lange um sie trauern. Ihr Vater, ein bekannter Architekt, tut alles, um das sensible Kind weiter zu fördern. Er schickt sie aufs Ignaz-Günther-Gymnasium, die renommierteste Schule der Stadt. Hier wie auch später auf der Universität zeigt sich das hübsche, schmalbrüstige Mädchen als außerordentlich begabte Schülerin.
Mit achtzehn kommt sie an die Ludwig-Maximilians-Universität in München. Sie selbst würde gern Theologie studieren, doch ihr Vater ist dagegen. So belegt sie die Fächer Philosophie, Geschichte, Psychologie, später zusätzlich Journalismus. Mit dreiundzwanzig Jahren beginnt sie ihre Doktorarbeit in Klinischer Psychologie über Anorexie und Bulimie.
Lola ist hochbegabt, intelligent und interessiert sich für alles. Für Theologie und Pädagogik, Wirtschaftsrecht und Geografie, für Anthropologie und Zoologie, für Metaphysik und Mathematik, für Literatur und Raumfahrt. Doch so tüchtig Lola Herrenhaus ist und so fortschrittlich ihre Ansichten sind, so wenig weiß sie ihre Karriere zu planen. Am liebsten hätte sie ihr gesamtes Leben an der Uni verbracht.
Bis sie Rodrigo trifft. Rodrigo de Assis Moreira studiert Architektur im vorletzten Semester und macht schon beim ersten Zusammentreffen einen gewaltigen Eindruck auf sie. Die beiden werden ein Paar und ziehen zusammen. Rodrigos Beharrlichkeit und sein Einfühlungsvermögen bringen Lola dazu, sich nach Abschluss ihres Studiums zu bewerben. Beruflich hat sie nun Erfolg. Sie erhält eine Stelle in der Redaktion der Süddeutschen.
Nach einer Fehlgeburt zerbricht die Beziehung zu Rodrigo. Lola mag nicht aus Bayern und Europa weg und mit ihm in seine Heimat nach Brasilien ziehen. Nach mehreren flüchtigen Affären schlägt sie sich beim Recherchieren in der Stadtbibliothek die Stirn an einem Lampenschirm blutig und wird von Joe Ottakring gerettet.
Dass sie den knorrigen Polizisten liebt, merkt sie, wenn er ihr fehlt. Oder wenn ihm etwas passiert ist.
Was hatte sie vorhin am Telefon gesagt? »Hallo, liebster Joe. Ich würde den nächsten Flieger nehmen, um dich zu besuchen. Aber ich komme in den nächsten Tagen nicht weg. Unsere Programmkonferenz, die monatliche Redaktionsbesprechung …«
Ottakring hätte gern die Hände vors Gesicht geschlagen, aber das war ihm nicht möglich. »Keine Angst, Lola, ich komme hier auch nicht weg«, sagte er.
Hinter einem Wald von Kränen, die über der Mole von Olbia aufragten, breitete die aufgehende Sonne einen violetten Lichtschein über den Hafen, die Bucht und das Meer.
»Er ist da«, sagte Waller über sein Mobiltelefon. Er lehnte an einem angerosteten Schiffsrumpf und kniff vor dem blendenden Licht die Augen zusammen. Die Farben erinnerten ihn an seine Kindheit am Chiemsee, wenn die Sonne in der
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