Jenseits der Alpen - Kriminalroman
ohne Groll. »Ein Serienmörder ist zu über neunzig Prozent männlich und zwischen fünfundzwanzig und fünfundvierzig Jahren alt. Seine Opfer sind meist weiblich, die Taten zum Großteil sexuell motiviert. Das trifft bisher alles auf unsere Fälle zu, außer dem Alter, das wir nicht kennen.«
Ottakring machte eine zustimmende Geste. »Wer gilt denn überhaupt als Serienmörder, Frau Anwärterin?«, ließ er den Oberlehrer raushängen.
Jenny, die junge Münchenerin, parierte sofort: »Wer mindestens drei Taten bei voneinander unabhängigen Gelegenheiten begeht, ist ein Serienmörder. Das trifft genau auf unsere Fälle zu.« Sie legte eine Millisekunde Pause ein. »Falls sich tatsächlich herausstellen sollte, dass es sich um den gleichen Täter handelt.«
»Danke, Jenny«, lobte Ottakring. »In Deutschland, schätzt man, waren in den vergangenen fünfzig Jahren etwa zweihundert Serienmörder aktiv. Mehr als zwanzig Mordserien blieben ungeklärt.« Er stellte sich in Position und sah vom einen zum anderen. »Doch unsere Mordserie wird dazu nicht gehören, Leute. Sind Sie bereit? Gibt es jemanden, der sich zurückziehen möchte, bevor wir loslegen? Hier und jetzt ist die letzte Gelegenheit.«
Als sich niemand meldete, spuckte er in die linke, nicht behinderte Hand, rieb die befeuchtete Hand an der Schlinge des anderen Arms und sagte: »Ich bin sicher, dass unsere Morde einen gemeinsamen Nenner haben: Alle drei Opfer waren als Anhalterinnen unterwegs. Und sie haben die Autobahn genommen. Die Übereinstimmungen sind erdrückend. Der Täter hat sich nicht die Mühe gemacht, sie Kilometer weit weg im Wald zu vergraben oder im Bach zu versenken. Wer mag sie also mitgenommen haben? Wer benutzt regelmäßig die Autobahn? In immer wiederkehrenden Abständen?«
»Reisebusse. Fernfahrer. Speditionen. Kurierdienste«, waren die Zurufe.
»Genau. Also konzentrieren wir uns auf Personen, die in diesen Berufssparten beschäftigt sind. Auf geht’s! An die Arbeit!«
* * *
»Wenn Selma als Anhalterin unterwegs war, ist sie vielleicht direkt nach ihrer Überfahrt am Hafen von Genua in ein Auto eingestiegen. Das war am 31. Dezember. In der Nacht zum 1. Januar wurde sie getötet. Wie sonst soll sie in so kurzer Zeit nach München gekommen sein?«, sagte Waller nachdenklich zu Agnes.
»Also gehen wir auf die Suche nach diesem Fahrzeug.«
»Warum erst jetzt?«, brauste Waller auf.« Das hätten die Italiener schon längst tun müssen.«
Agnes sah ihn von der Seite an. »Seien Sie nicht unzufrieden«, besänftigte sie ihn.
Ihr Vorsatz, die Hilfe des Commissarios und seiner Leute hierfür in Anspruch zu nehmen, löste innerhalb kürzester Zeit eine Lawine aus.
Die italienische Polizei machte die Suche mit allem Nachdruck öffentlich. Waller wurde mit Agnes beim Leitenden Kriminaldirektor von Genua vorgeladen, einem Colonello – »Wir werden die Sache mit Vehemenz verfolgen«, verkündete er. Tagespresse und Fernsehen brachten neuere Fotos von Selma, die aus ihrem blühenden Leben gegriffen waren, und Mariedda, die Ispettora, schwirrte durch Genua wie eine Libelle. Fast jedem Einwohner und jeder Bürgerin von Genua hielt sie drei Selma-Bilder vor die Nase. »Silvestertag im alten Jahr. Der letzte Tag im vergangenen Jahrtausend. Haben Sie diese Frau gesehen?«
Schließlich erhielt Agnes einen Telefonanruf von Mariedda.
»Wollen Sie zu mir kommen? Ich habe eine Überraschung für Sie beide.« Sie nannte ihr eine Adresse unweit des Hafens. Eine Modeboutique.
Agnes nahm den Bus.
Die Polizistin in offizieller blauer Uniform – Kurzarm, Goldknöpfe, zwei Sterne auf den Schulterklappen – geleitete sie durch den hinteren Bereich des hellen, heiteren Geschäfts zu einer Tür, die mit »Ufficio« betitelt war. Der weite Raum dahinter stellte sich als eigenständiges luxuriös-elegant ausgestattetes Domizil heraus, in dem der seriös wirkende Padrone im Anzug mit Einstecktuch auf sie wartete. Er war sichtlich überrascht vom kleinen Wuchs der Frau, die zusammen mit Mariedda sein Büro betrat. Doch er bewahrte vollendet die Form.
Er deutete an, sich zu erheben. »Marconi«, murmelte er. »Treten Sie ein, Signora. Darf ich den beiden Damen etwas anbieten?« Die Antwort wartete er nicht ab. Auf einen Wink von ihm brachte eine Angestellte Kaffee und Gebäck.
Mariedda nahm die Dienstmütze ab und legte sie neben die gewaltige Sonnenbrille des Inhabers auf den Beistelltisch zwischen ihnen. Ihre Augen waren auf den Herrn
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