Jenseits der Alpen - Kriminalroman
hierbehalten?«, rief Gollek über die Schulter zurück.
Helen nahm den nächsten Zug aus der Zigarette und lachte laut. »Was glaubst du, wie Karl sich freuen wird, wenn er euch zwei sieht. Er weiß ja nicht, dass du ihn abholst. Nimm den Hund ruhig mit, ein bisschen Bewegung schadet ihm bestimmt nicht.«
Sie nahmen sich noch einmal in den Arm. Gollek heftete sich zwei Wäscheklammern an die Hose, winkte seiner Frau am Zaun zu und schwang sich fröhlich pfeifend aufs Rad.
»Komm, Hund!«
In weitgreifenden Sätzen lief Giorgio auf dem Gehsteig neben seinem Herrn her. Giorgio war ein kluges und fröhliches Tier. Am Anfang seiner Zwangsversetzung von Innsbruck nach Rosenheim hatte er sein früheres Frauchen vermisst. Doch rasch gewöhnte er sich an die neue Umgebung. Ständig schwänzelte er um Karl herum. Der Bub konnte mit ihm anstellen, was er wollte, Giorgio wurde nie böse. Und wenn Gollek von seinen Fahrten heimkam und freihatte, so wie in dieser Woche, freute sich das Tier über die Streicheleinheiten und die Leckerli, die er von ihm erhielt.
»Auf geht’s, Giorgio! Schneller!« Gollek trat in die Pedale. Es ging bergauf. Giorgio folgte ihm mit hängender Zunge. Seine Augen sprühten vor Freude und Unternehmenslust.
Dann waren sie da.
Das Schulhaus war ein typisches Kind der sechziger Jahre. Schnörkellos, symmetrisch, viele Fenster, patinierte Regenrinnen, verwaschener angegrauter Putz. Es war beileibe nicht das erste Mal, dass Thorsten Gollek seinen Sohn abholte. Er machte jedes Mal ein Geheimnis daraus, um Karl damit zu überraschen. Es war nicht einfach, ein guter Familienvater zu sein, wenn man ständig auf Achse war und damit das Brot für die Familie und die Raten für die Hausabzahlung verdienen musste. Wenn er aber den Lkw abgestellt hatte und die Haustür aufschloss, flogen ihm die Herzen zu. Dann verschwanden auch die düsteren Gedanken und blutigen Erinnerungen, die er von seinen Fahrten mitschleifte und die ihm oft nachts den Schlaf raubten.
Es war wie damals, als er sich das Rauchen abgewöhnen wollte. Zweimal hatte er es schon versucht. Und immer wieder war er rückfällig geworden. Mit den Frauen war es ebenso. Er hatte zwar nie in Erwägung gezogen, seine Frau nicht zu betrügen. Doch Frauen, mit denen er geschlafen hatte, umzubringen, war ein anderes Kaliber, das war ihm zutiefst bewusst. Zu seiner Entschuldigung redete er sich ein, nur solche getötet zu haben, die ihn verraten und damit sein Familienleben gefährdet hatten. Denn die Familie ging Thorsten Gollek über alles. Vor allem der Karl. Auf den Karl freute er sich am meisten.
Jedes Mal, wenn es wieder so weit war, kam er sich vor wie ein zu schnell gewachsener Junge bei einer Mutprobe. Bestand er sie oder nicht? Würde er Fehler begehen oder nicht? Es stand schließlich einiges auf dem Spiel. Er musste an die Studentin vor zwei Jahren im Pustertal denken. Er wollte sie nicht töten. Doch sie hatte ihn bedrängt, und ihm war nichts anderes übrig geblieben. Er hatte seine Familie vor Entdeckung retten müssen. Und – wenn er ehrlich zu sich selbst war – er sah es gern, wenn über ihn in der Zeitung geschrieben wurde.
Nicht erst einmal hatte er sich vorgenommen, einen Psychologen aufzusuchen. In den Fernsehzeitschriften hatte er Wunderdinge von deren Erfolgen mit Patienten gelesen. Doch dann kamen seine persönlichen Einwände: zu teuer, kein Geld. Zeitverschwendung. Vornehmes Pack, nur was für die Besseren. Und vor allem: So weit bin ich noch nicht. Erst wenn ihn der Hunger wieder überkam, wenn er sich vorstellte, wie er so ein knuspriges Ding am Straßenrand … eine neue Mutprobe!
»Hallo, Papa!«
Giorgio führte einen Freudentanz auf, rannte mit seinem Schwanz im Kreis um die Wette und kläffte, als sei er vom Affen gebissen worden.
Gollek schloss seinen Sohn in die Arme und strich ihm übers Haar. Nervös wurde er erst, als Karl ihm eine Frage stellte:
»Unser Hund ist dir doch zugelaufen, Papa, oder?«
»Ja, mein Sohn. Der ist mir während einer Transportfahrt zugelaufen.«
»Woher weißt du dann, dass er Giorgio heißt, Papa?«
In Rosenheim begann es zu regnen. Eine Kaltfront nahte von Osten.
* * *
Auch zwölf Kilometer weiter im Südwesten, im Inntal, regnete es. Es regnete bis in den Abend hinein. Der Niederschlag prasselte auf die Dächer, überzog die Straßen und klatschte gegen die Fenster der Wohnung.
»Na endlich!«
»Was, na endlich?«, fragte Ottakring überrascht.
»Endlich haben wir wieder
Weitere Kostenlose Bücher