Jenseits der Alpen - Kriminalroman
Polizistenhose war rasch gereinigt. Agnes hatte sich etwas beruhigt und wieder Farbe im Gesicht.
»Und wie sähe so ein Kompromiss aus?«, fragte der Commissario.
»Sie begleiten uns bei unseren Ermittlungen. Sie werden uns von Genua aus nach Norden führen.«
»Nein!«
Agnes machte Anstalten, dem Bullen an den Hals zu springen. In Wallers Kopf arbeitete es.
»Nein. Ich werde nicht mit Ihnen fahren. Sie werden eine charmantere Eskorte bekommen. Mariedda wird Sie begleiten.«
Die Raststätte an der A 4, an welcher der Boutiquebesitzer Selma Ruspanti abgesetzt haben wollte, lag zwei Kilometer vor der Kreuzung mit der A 22, die nach Norden führt. Die beiden Deutschen wurden im Dienstwagen der Carabinieri hingebracht. Mariedda saß am Steuer, Waller vorn neben ihr und Agnes hinten.
Wenn die Carabinieri an einem öffentlichen Platz auftauchten, erregte dieser Umstand gewöhnlich Aufsehen. Wenn es sich gar um eine weibliche Polizistin handelte, die von einer männlichen und einer weiblichen Person in Zivil begleitet wurde, konnte es sich nur um das Abwenden oder das Aufklären eines Terroranschlags handeln.
»Bitte holen Sie den Geschäftsführer«, bat Mariedda die junge Angestellte an der Tankstellenkasse.
Der Pächter der Tankstelle war ein kleines Männlein um die fünfzig, das aussah wie sein eigener Buchhalter. Seine Brust schwoll vor Stolz, als er sich im Mittelpunkt polizeilicher Ermittlungsarbeit sah. Sie hatten sich in ein Büro von der Größe und Ausstattung eines Hühnerstalls zurückgezogen.
Agnes zeigte ihm Selmas Foto. Er schaute es an. Nahm es in die Hand. Gab es wieder zurück und schüttelte den Kopf.
»Nein, die kenne ich nicht. Aber gerade an Silvester haben wir anständig Betrieb. Da kann man sich nicht an einzelne Gesichter erinnern. Zumal es ja schon ein Vierteljahr her ist.«
»Wie lange bewahren Sie Ihre Videoaufzeichnungen auf?«, fragte Mariedda.
Das Männlein hatte sichtlich Respekt vor der Uniform. »Können Sie sich natürlich anschauen. Pronto .«
Waller beschäftigte sich zusammen mit Agnes mit den drei anwesenden Angestellten, zwei Frauen und einem Mann. Sie zeigten ihnen Fotos und beschrieben das Gepäck.
»Ja, die habe ich gesehen«, rief der Angestellte spontan aus, ein hochgewachsener junger Mann mit schwarzem Schnurrbart, ebenso wie seine Kolleginnen in einer Art Uniform steckend. »Sie war schwer beladen. Sie trug eine grün-weiß gestreifte Reisetasche und hatte einen Rucksack um. Der Rucksack hatte die Farbe reifer Tomaten.«
Donnerwetter, dachte Waller, wie poetisch. »Wieso erinnern Sie sich so genau? Es ist doch schon ein Vierteljahr her, und Sie sehen täglich neue Menschen.«
»Weil ich einen fast gleichen Rucksack habe, auch in derselben Farbe, und meine Freundin einen grün-weiß gestreiften. Die Frau hatte dieses Gepäck dabei, als sie mit Mirko nach dem Tanken in den Kassenraum kam. Ich glaube, sie stieg nachher zu ihm ins Auto.« Er überlegte kurz. Dann nickte er heftig und sagte, Begeisterung in der Stimme: »Das müsste auf dem Band zu sehen sein. Sein Auto stand noch an der Tanksäule.«
Waller hätte den Mann umarmen können. Gemeinsam sahen sie sich das Video an, auf dem der Gemüsehändler Mirko Vlahovic galant einer jungen Frau das Gepäck abnimmt und in seinen Lieferwagen lädt. Waller und Agnes hatten Selmas Foto schon so oft betrachtet, dass es keiner weiteren Überprüfung bedurfte. Eindeutig: Diese Frau war Selma Ruspanti. Die eingeblendete Uhr zeigte zwölf Uhr siebenunddreißig.
Zum ersten Mal sahen sie das spätere Mordopfer lebend.
»Das wird wohl das letzte Bild von ihr gewesen sein«, sagte Waller. Mitgefühl schwang in seiner Stimme mit.
Rosenheim – München, Zweite Aprilwoche 2000
Rosenheim im Frühjahr kann ein Traum sein. Das Starkbierfest in der Inntalhalle war gerade vorbei, da wurde der Frühling von den Magnolien und Rhododendren genarrt – sie blühten!
Nachdem Thorsten Gollek zum dritten Mal seit dem frühen Morgen mit seiner Frau geschlafen hatte, entschloss er sich, den Karl am Mittag mit dem Radl von der Schule abzuholen.
Helen saß auf der kleinen Terrasse und fingerte die letzte Zigarette aus der Packung. Sie beobachtete den Hund, der ziellos durch den Fünfzig-Quadratmeter-Garten des Vorstadthäuschens pirschte. Die Sonne schien zwischen den Zacken der Bergkette im Süden hindurch über Helens Kopf hinweg schräg ins praktisch eingerichtete Wohnzimmer.
»Soll ich Giorgio mitnehmen, oder möchtest du ihn
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