Jenseits der Alpen - Kriminalroman
die unterste Schublade des Schreibtischs heraus und legte beide Füße darauf. Der eine Fuß schmerzte infolge des Unfalls noch immer, ebenso wie der verletzte Arm. Der Kopfverband war durch ein Pflaster ersetzt worden. Wenn er in den Spiegel schaute, sah er noch immer wie ein Produkt aus Frankensteins Spielzeugkiste aus. Streckenweise fühlte er sich auch so. Er lehnte sich zurück und schaute aus dem Fenster.
Wenn diese Handtasche zu Selma Ruspanti gehörte, würde das Landeskriminalamt mit hoher Sicherheit trotz des schlechten Zustands des Materials Spuren des Opfers an, auf und in der Tasche finden. Bei der kriminaltechnischen Untersuchung in München würde man auf Haare, Hautpartikel, Schuppen stoßen, aus denen die DNA ermittelt werden konnte. Wenn die Untersuchung zu der Gewissheit führen würde, dass diese DNA mit der des Opfers übereinstimmte, die Tasche also der lebenden Selma gehört hatte, wie kam dann die Tasche ins Gebüsch auf einen Parkplatz, wenige Meter von der Autobahnausfahrt Wörgl entfernt?
Die Handtasche sah aus, als ob sie für Selma wichtig gewesen wäre. Sie hatte das gute Stück unmöglich achtlos dort verloren. Ottakring ging davon aus, dass sich Selma zu diesem Zeitpunkt bereits in der Gewalt ihres Mörders befunden hatte. Oder sie war bereits tot gewesen, und ihr Peiniger hatte die Tasche auf diese Weise entsorgt. Dagegen sprach allerdings, dass ihr Reisegepäck, der rote Rucksack und die grün-weiß gestreifte Sporttasche, bisher nicht gefunden worden waren. Warum sollte er allein die Handtasche auf dem belebten Parkplatz weggeworfen haben?
Fragen über Fragen.
Noch über etwas anderes dachte Ottakring nach. Die Tasche war durchnässt gewesen, als sie gefunden wurde, hatte Spurny weiter notiert. Freilich, sie hatte im Schnee gelegen. Doch ab wann hatte es geschneit? Hatte es bereits zu dem Zeitpunkt geschneit, als jemand die Tasche loswerden wollte? Oder wurde sie später zugeschneit? Wäre sie aber eingeschneit worden, wäre sie nicht entdeckt worden. Demnach hatte es nicht mehr geschneit, nachdem der Täter den Gegenstand weggeworfen hatte. Dass es sich dabei um den Mörder von Selma Ruspanti handelte, davon ging Joe Ottakring nach diesen Überlegungen aus.
Als er die Beine wieder anzog und die Schublade zuschob, hatte er eine verschwommene Vorstellung davon, was geschehen sein musste.
Zunächst sollte Kollege Waller in Olbia mittels der Fotos zweifelsfrei die Identität der Tasche bestätigen lassen. An dieser Stelle fragte sich Ottakring ernsthaft, ob er nicht vielleicht doch einem Hirngespinst unterlag. Viele Zweifel vagabundierten durch sein Gehirn. Er durfte nicht zulassen, dass in seinem Kopf ein Chaos heranwuchs. Er musste sich Gewissheit verschaffen.
Mit einem Ruck erhob er sich. Er hatte einen Entschluss gefasst. Er wollte den Fundort der Tasche selbst in Augenschein nehmen. Wieder einmal – wie schon so oft – versetzte er sich in die Position eines Jägers.
»Auf geht’s, Ottakring«, spornte er sich zur Jagd nach dem Mörder an.
* * *
»Endlich!«, rief Oberkommissar Werzmirzowsky, als er am nächsten Morgen in Ottakrings Büro stürzte. »Endlich haben der Dr. Gamper und der Oberleutnant Spurny etwas von sich hören lassen.«
Ottakring horchte auf. »Aha. Endlich. Und?«
»Es geht um die Fremd- DNA -Spuren an den Leichen unserer drei Mordopfer. Berlascumi, Bartz und Ruspanti. ›Wir folgen einfach dem Sperma‹, haben Sie einmal gesagt, und ich hab’s eilig gemacht. Ich habe die Probe per Kurier nach Bozen und nach Innsbruck zur Analyse schaffen lassen. Und endlich – heute früh kam das Fax mit dem Resultat. Ja, die Fremd- DNA ist in allen Fällen identisch. Wir haben damit den endgültigen Beweis, es tatsächlich mit einem Serientäter zu tun zu haben.«
Das überraschte nicht. Ottakring war immer schon davon ausgegangen. Doch die Bestätigung tat gut. Was ihm weniger gefiel, war das Verhalten seiner beiden Kollegen in Südtirol und in Tirol. Eigentlich pflegten sie beste Beziehungen miteinander. Eifersucht oder Berufsneid waren ihnen bisher fremd gewesen. Die italienische Polizei hatte sich sehr kooperativ gezeigt. Bozen hatte sogar den Dienstwagen für Waller und Agnes gestellt. Warum sie allerdings bei einer so wesentlichen Sache wie dem DNA -Abgleich so lange gebraucht hatten, war ihm schleierhaft. Mauerten die Burschen? Fürchteten sie, dass ihnen die Butter vom Brot genommen werden sollte?
* * *
»Es ist eigenartig«, besprach sich
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