Jenseits der Alpen - Kriminalroman
verbinden.
»Seid ihr schon unterwegs nach Rosenheim? Nein? Na ja.«
Die Art, wie er »Na ja« regelrecht ausspuckte, hätte einem zarter Besaiteten als Waller einen kalten Schauer über den Rücken gejagt. Aber Waller kannte Ottakring.
»Ich hasse Tabellen«, fuhr Ottakring nach einer Sekunde des Schweigens fort. »Und Ihr Fax besteht ja nur aus Fahrplänen. Würden Sie mir den Hintergrund freundlicherweise erörtern? Haben wir ihn oder nicht? Oder anders gefragt: Haben wir wenigstens eine heiße Spur?«
Ein Lachen ertönte, das klang, als müsste sich einer den Bauch halten. »Eine Spur? Ja, haben Sie denn nicht begriffen? Wir sprechen von sechs Zügen, auf denen sich garantiert unser Mann befunden hat. Wir reden dabei von insgesamt fünfundsiebzig Lkws. Das bedeutet jede Menge Fahrer, denen wir nachgehen müssen. Wenn wir damit durch sind, haben wir ihn. Spätestens dann.«
Hätte Ottakring ein dünneres Fell gehabt, wäre er wegen seiner Begriffsstutzigkeit errötet. So aber hörte er einfach mit erhöhter Aufmerksamkeit zu, um kein Detail zu verpassen.
Zwei Züge waren am Silvesterabend des alten Jahrtausends im Abstand von zwei Stunden Richtung Wörgl gefahren, beide mit der Maximalbeladung von achtzehn Fahrzeugen. Am Neujahrsabend fuhren drei Züge, der letzte um kurz nach elf ab Brennersee. Dieser Zug hatte lediglich vier Lkws befördert, die zwei Züge davor waren ausgebucht, und auf dem ersten befand sich sogar ein Traktor. Selbst die Zugnummern waren in Wallers Fax aufgeführt, doch die nahm Ottakring nicht zur Kenntnis.
»Setzen Sie sich beide in den Zug und kommen Sie her«, schloss er. »Wir haben eine lohnende Arbeit vor uns. Wir müssen fünfundsiebzig Lkw-Fahrer auffinden und vernehmen. Den Traktorfahrer werden wir wohl vernachlässigen können.«
* * *
»Lieber Gott, hilf mir. Steh mir bei, lass mich nicht sterben.«
Roswitha Hufschmied hatte gebetet. Immer und immer wieder, als sie in der kalten Nacht draußen in der Wildnis lag, nur spärlich bekleidet und umwickelt. Spätestens beim dritten Überflug des Hubschraubers über die Hofau wusste sie, dass ihre Eltern sie als vermisst gemeldet hatten und dass nach ihr gesucht wurde. Scheinwerfer zuckten vom Himmel durch die nasse Wiese, krochen über ihren Körper hinweg. Sie wollte schreien, um Hilfe rufen, doch es war zwecklos. Das Plastikband, das vom linken Ohr über den Mund bis zum rechten Ohr reichte, war stärker.
Komisch. Natürlich war sie dem Fremden böse, der sie in diese Lage gebracht hatte. Doch einen richtigen Zorn spürte sie nicht, denn fast wäre Schlimmeres passiert. Ihren Freundinnen würde sie alles klitzeklein erzählen. Vielleicht käme sie sogar in die Zeitung. Oder ins Fernsehen? Immer wieder musste sie an Flori denken und an ihren Vater, der sie am liebsten vierundzwanzig Stunden am Tag behüten wollte.
Sie staunte über sich selbst. Sie hatte in einem Maß gelogen und phantasiert, wie sie es nicht für möglich gehalten hätte. Weder war ihr Vater tot, noch hatte sie eine todkranke Schwester, noch war ihr Name Clara. Er hatte das alles geglaubt, und das war wohl ihre Rettung gewesen. Er hätte sie vergewaltigt und umgebracht, davon war sie hundertprozentig überzeugt. Seine Augen, diese Augen, würde sie nie vergessen.
Es war nur blöd und völlig uncool von ihr gewesen, das vor den beiden Polizistinnen zuzugeben, die sie im Krankenhaus aufgesucht hatten.
Nein, er hatte sie nicht vergewaltigt. Das hatte auch die Untersuchung schon ergeben. Wie groß der Mann gewesen sei, wurde sie gefragt. Wie alt, was hatte er an, hatte er volles Haar, und wie sahen die Hände aus? Sie konnte weder die Frage nach der Automarke beantworten, noch hatte sie einen Blick auf das Nummernschild werfen können.
Ja, die beiden Jungs, die sie im Kino angemacht und nachher verfolgt hatten, ja, die sollten sie ruhig anhören.
Auch die Jungs hatten das Nummernschild nicht gelesen, erfuhr sie kurz darauf von dem Typen, der nun an ihrem Bett saß und nach ihren Angaben ein Gesicht in seinem Computer erstellte. Identikit hieße das Verfahren, verriet er ihr.
»Ich bin müde«, sagte sie leise.
Die Krankenschwester, die sich die ganze Zeit im Hintergrund aufgehalten hatte, stand auf. »Bitte beenden Sie die Sitzung«, ordnete sie an.
»Mama und Papa«, flüsterte Roswitha leise, bevor ihr die Augen zufielen und sie einschlief.
Wie zwei Schutzengel standen die Eltern an ihrem Bett, jeder an einer Seite, und wachten über ihre
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