Jenseits der Alpen - Kriminalroman
Nicht aber für Agnes. Sie arbeitete die Liste von oben bis unten ab, von vorne bis hinten.
Dazwischen gab es auch Erfrischenderes. Zum Beispiel einen Anruf von Mariedda, der Polizistin aus Olbia. »Wie geht es Erwin?«, stürzte sie gleich mit der Tür ins Haus.
Agnes kannte keinen Erwin.
»Na, dem Signore Waller, dem Commissario.«
»Habt ihr etwas Neues in unserem Selma-Fall?«, fragte Agnes verwundert. »Waller ist momentan nicht hier. Aber du kannst es auch mir sagen.«
Nein, der Anruf sei privat, meinte Mariedda. Agnes hatte sofort ihr Bild vor Augen. Der Schmetterling mit den großen Augen und der Veilchenfigur.
Ob sie denn seine Privatnummer haben könne.
Agnes spürte etwas in sich, das sie sonst nicht kannte. Ein Gefühl, das schmerzlich brannte. Neid war ihr sonst fremd. Und sie hatte auch absolut nichts gegen Waller. Doch da fuhr der einmal kurz nach Sardinien, und sofort fing eine attraktive Italienerin Feuer. Warum passierte ihr das nie?
* * *
»Kripo Rosenheim, Waller. Ja, bitte?«
»Wegen der Zeitung. Sie ham da a Buidl drin. Den kenn i.«
»Sie meinen das Bild des mutmaßlichen Serientäters?«, fragte Waller in seinem besten Bayerisch.
»Ja, genau. Den kenn i. Des ist der Winterer Sepp. Wohnhaft in Raubling, Nelkenweg 7.«
»Gut, ich habe notiert. Was ist denn der Winterer Sepp von Beruf?«
»Ja, des woaß i a. Kaminkehrer ist der. Der ist den ganzen Tag unterwegs. Leicht kann der so a Leich versteckn. Der brauchts ja nur in den Kamin neistecka, hehehehe. Ganz leicht.«
Solche Anrufe hagelte es in der Einsatzzentrale, die eigens dafür eingerichtet worden war. Vielversprechende wurden zu Waller durchgestellt, die meisten jedoch nicht.
»Kripo Rosenheim, Waller.«
»Hallo, Herr Waller, Agnes hier. Ich soll Ihnen schöne Grüße von der Mariedda ausrichten. Sie erinnern sich? Das ist die –«
»Jaja, ich weiß, flüchtig, wer … Hat sie angerufen? Ist sie hier?«
Agnes berichtete von dem Anruf. Er solle Mariedda zurückrufen und erhielt von Agnes die Nummer.
»Wie soll ich mich nur …«, überlegte er laut.
»… mit ihr verständigen? Italienisch halt. Oder deutsch. Oder armenisch. Eine große Liebe schafft alles.« Es knackte in der Leitung. Dann hörte Waller noch flüchtig, bevor aufgelegt wurde: »Liebe ist doch nur eine andere Form der Geistesschwäche.«
Mayr und Eberl, Jenny und Ina, Tom und Matthes strömten aus, um an Türen zu klingeln, Männer zu sprechen oder deren Frauen anzutreffen, vertröstet zu werden, wieder hinzugehen, Termine in der Direktion zu vereinbaren, sich erfolglos abzuwenden und einen Haken auf ihrer Liste zu machen. Zwei, drei Tage lang war alles umsonst.
Dann kam der entscheidende Anruf.
Rosenheim, Mittwoch, 26. April 2000, 8 bis 16 Uhr
Als Thorsten Gollek in den Daislerweg im Rosenheimer Ortsteil Aisingerwies einbog, klopfte sein Herz höher. Sehr langsam und sehr rechts lenkte er den blauen Ford durch die schmale Wohnstraße. An seinem Ziel, der Hausnummer 38, fuhr er vorbei, bog in die nächste Seitenstraße ein und hielt an.
Der Jogger im hellblauen Trainingsanzug mit schwarzer Perücke und Sonnenbrille, der zwei Minuten später von dieser Seitenstraße aus gemächlich den Daislerweg hinuntertrabte, hatte mit dem Fahrer des blauen Ford nichts gemeinsam. Auch dass er an der Hausnummer 38 anhielt und am Gartenzaun seine Dehnübungen vollführte, erschien vollkommen normal.
Ein Haus aus den Sechzigern, zwei Stockwerke, weiß gestrichen, die Rollos an den Fenstern hochgezogen, Haustür aus Metall mit Sicherheitsglas. Briefkasten am Lattenzaun mit der Aufschrift »Hufschmied«. Keine Bewegung im Garten, keine Bewegung im oder am Haus. Hinter dem Gebäude vermutete er eine Terrasse mit normaler Tür.
Gollek war kein Profi in diesen Dingen. Ins Haus zu gelangen war schwierig. Er musste sich etwas überlegen. Er musste die Kleine anderswo abfangen. An der Schule. Unterwegs. Oder direkt vorm Haus.
* * *
»Ja. Waller hier. Der Erwin. Ich glaub, mir haben da was.«
»Aha. Warum bist du noch nicht hier?«
Sie setzten sich in Ottakrings Büro in der kleinen Besprechungsecke zusammen. Werz vom LKA stieß zu ihnen.
»Mir ham bisher zweiundzwanzig Anrufe wegen dem Fahndungsfoto bekommen«, berichtete Waller. »Allen Spuren sind die Kollegen nachgegangen. Alle bisher negativ. Bis auf einen. Bei der Agnes mit ihren Speditionen war’s ähnlich. Alle Kontakte negativ bis auf einen.«
Waller verstand es, eine Sache spannend zu machen.
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