Jenseits der Alpen - Kriminalroman
versonnen an Frau Gollek vorbei zum Terrassenfenster hinaus.
Sie musste nicht lange überlegen. »Ja, wir haben uns sogar vor seiner dritten Haftstrafe kennengelernt. Er hatte bei irgendeiner Behandlung den Arzt geohrfeigt, weil der ihn falsch behandelt hatte. Deshalb musste er ins Gefängnis wandern. Aber wir haben immer eine glückliche Ehe geführt. Karl, unser Sohn, ist gut geraten, er ist einer der Besten in seiner Klasse. Er ist noch in der Schule. Sogar der Hund ist bei uns glücklich.«
Offenbar einem plötzlichen Einfall folgend, platzte Jenny Galland mit einer Frage heraus. Der Hund hatte es sich zu ihren Füßen gemütlich gemacht, und sie kraulte ihm die Ohren. »Seit wann haben Sie den Hund?«, fragte Jenny.
Die Augen der Frau leuchteten. »Ach, der Giorgio«, sagte sie leichthin. »Den hat Thorsten von einer Fahrt mitgebracht. Der ist ihm zugelaufen.«
Ottakring hatte Mühe, nicht aufzuspringen. »Wie, haben Sie gesagt, heißt der Hund?«
Ottakring war kurz nach draußen gegangen. Er hatte mit der Handynummer, die auf dem Zettel stand, und mit der Dienststelle telefoniert. Es war höchste Zeit.
»Agnes, du hast das Kennzeichen von Golleks Lkw. Sorge dafür, dass er noch vor der österreichischen Grenze gestoppt wird. Es darf nichts dazwischenkommen. Hast du mich verstanden?«
Rosenheim, Mittwoch, 26. April 2000, 16 bis 18 Uhr
Na endlich, dachte Helen, als die beiden Polizisten das Haus verlassen hatten. Endlich haben sie ihn. All die Jahre hatte sie den unbändigen Hass auf ihn unterdrückt. Sie war sicher, dass er meinte, sie merke nichts von seiner Fremdgeherei. Natürlich konnte sie nicht wissen, wann und wo und mit welchen Weibern. Doch es hatte genügend Spuren gegeben. Fremde Gerüche, Hinterlassenschaften an seiner Unterwäsche, eine verräterische Botschaft in der Geldbörse. Seine übertriebene Vorsorge, von der sie aus langer Erfahrung wusste, dass sie gespielt war. Den Ausschlag hatte schließlich das Suchbild in der Zeitung gegeben. Da war er nahezu perfekt getroffen. Eine Stunde lang hatte sie geschwankt. Sollte sie die Polizei verständigen oder nicht? Bei einem Spaziergang mit Giorgio hatte sie sich dagegen entschieden. Sie wollte ihn nicht ans Messer liefern. Sie wäre sich wie eine Verräterin vorgekommen, und das war nicht ihre Art.
Erst in diesen Tagen war ihr klar geworden, woher der Hund stammte. Er hatte ihn von exakt der Tour in den Süden mitgebracht, während der er vor zwei Jahren die Studentin totgemacht hatte. Ja, sie hasste Thorsten. Er sollte ihr für seine ständige Untreue und sein notorisches Lügen büßen. Doch ihn einfach der Polizei übergeben, das wollte sie nicht.
Als sie die Haustür hinter den Polizisten zugezogen hatte, ging sie wie ein unruhiges Tier im Zimmer auf und ab, die Hände hinter dem Rücken verschränkt. Zwischendurch blieb sie stehen und schaute in den Garten hinaus. Ihr Blick aber ging ins Leere. Sie war fahrig und zittrig, und das kam nicht von der Aufregung. Lange hatte sie ihre Situation nur mit Wein und Schnaps ertragen können.
Am Heiligdreikönigstag hatte sie die kleine silberne Pistole gefunden, die er im Januar mitgebracht hatte. Sie war mit einem Tuch umwickelt und in seinem Nachttisch versteckt. Da hatte sie den kühnen Entschluss gefasst, nichts mehr zu trinken. Keinen Tropfen mehr. Sie wollte das anders regeln. Oft musste sie die Zähne zusammenbeißen, doch sie hatte die Qualen durchgehalten. Als sie nun am Fenster stand und ihr Spiegelbild betrachtete, kam es ihr vor, als hätten sich die Gefäße durch den Entzug schon etwas verengt, seien die Wangen weniger gerötet, hätten die Ohrenspitzen eine normale Farbe. Auch die Falten am Mundwinkel schienen ihr nicht mehr so steil abwärtsgerichtet.
Langsam schritt sie vom Wohnzimmer hinaus in die Diele und folgte mit einer Hand am Geländer der Treppe in den ersten Stock, wo Schlafzimmer, Kinderzimmer und Badezimmer nebeneinanderlagen. Sie betrat das Schlafzimmer und öffnete seinen Nachttisch.
Erst als sie wieder unten war, wickelte sie die Pistole aus dem Lappen. Er hatte sie eingeölt. Sie wischte das Öl mit dem Lappen weg und warf ihn in den Mülleimer. Die Waffe lag einladend auf ihrer Handfläche, sie überragte kaum den Mittelfinger. Sollte sie es tun?
Ja, sie war entschlossen. Ihr Blick flackerte. Irrte umher. Zögernd zog sie den Schlitten zurück, so wie sie es sich bei ihrem Vater abgeschaut hatte. Vater war Schlosser und als Sportwart in seinem
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