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Jenseits der Alpen - Kriminalroman

Jenseits der Alpen - Kriminalroman

Titel: Jenseits der Alpen - Kriminalroman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: emons Verlag
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gewesen, und es hat auch niemand für sie angerufen.«
    Diese Auskunft hatte ihm eine kleine Last von der Seele genommen, denn ihm war klar, dass er sie schon im Krankenhaus unter Schutz hätte stellen sollen.
    Ottakring schilderte dem Kollegen die Situation, während sie auf dem straßenbreiten Weg nebeneinanderher fuhren. Rechts neigte sich der Grashang in einem Vierzig-Grad-Winkel zum Inn, links landete er in einer sanften Mulde. Im Westen türmten sich hohe Wolken am blauen Himmel auf. Es roch nach spätem Gewitter.
    »Ich hatte mich schon gefragt, ob die Kleine frei herumläuft«, meinte Waller. »Ich hatte den gleichen Gedanken.«
    Bei Brannenburg wechselten die beiden Freizeitsportler über die Innbrücke hinweg auf die andere Stromseite. Ottakring biss die Zähne zusammen. Er fühlte sich, als hätte man ihm ein Bein amputiert, strampelte aber ebenbürtig weiter mit.
    Als sie im Südwesten den Zwiebelturm von Flintsbach erkannten, stießen sie kurz darauf auf eine überdachte Holzbrücke über den Inn.
    »Die nehmen wir«, erklärte Waller bestimmt und deutete auf Ottakrings Fuß.
    Der schwieg.
    Sie stiegen ab und schoben die Räder. Unter dem Dach der Brücke blieb Ottakring stehen und studierte Balken und Bodenplatte. Er spähte durch die seitlichen Öffnungen zwischen Schrägbalken hinunter in den Strom, der ihm hier noch schneller schien als vorhin flussabwärts. Eine Krähe schrie dicht vor ihm. Sie stieg und sank mit den Aufwinden und segelte schließlich elegant übers Wasser davon. Weiter drüben im Osten, neben einem alten Gehöft, weideten zwei Silberreiher. Sie hatten die langen Hälse wie Wasserschläuche ausgefahren und suchten im Schilfgras nach Fröschen.
    »Schön hier«, bemerkte Ottakring anerkennend.
    Es ging ihm wieder besser. Durch das Gehen hatte das schmerzhafte Ziehen im Bein nachgelassen, und er konnte wieder gleichmäßig atmen. Als sie drüben waren, bestieg Waller als Erster sein Rennrad.
    Ottakring hatte sich etwas überlegt. »Waller«, rief er dem anderen hinterher. »Warten Sie.«
    »Wie wär’s?«, sagte er Sekunden später mit dem unschuldigsten Gesicht der Welt. »Wir kennen uns jetzt schon so lange. Wie wär’s, wenn wir Du zueinander sagen?«
    Ohne Wallers Reaktion abzuwarten, streckte er die Hand aus und sagte: »Ich bin der Joe.«
    Die Freude und Überraschung war Waller anzumerken. Er schlug ein. »Ich heiße Erwin«, sagte er.
    Erwin. Ottakring hatte keine Ahnung gehabt, wie der andere hieß. Lange nicht gehört, den Namen. Erwin.
    Sie machten beide kein großes Aufhebens aus der Sache.
    »Ist dir klar, dass wir stündlich mit einem neuen Mord rechnen müssen?«, sagte Ottakring mit einer Miene, die nicht ängstlich, aber doch sorgenvoll war.
    »Freilich. Aber wir werden den Kerl packen. Wir haben bisher noch jeden gepackt. Frage der Zeit.«
    »Genau«, sagte Ottakring. »Das ist das Problem. Die Zeit.«
    Er trat zur Seite. Die ganze Zeit schon hatte es ihn gedrängt. »Entschuldigst du mich kurz?«, sagte er. »Ich stell mich kurz hinter den Busch.«
    Während er in bester Tarnung seinem Geschäft nachging, beobachtete er, wie ein Mann und ein Junge mit dem Fahrrad von Süden kommend auf die Brücke zusteuerten, gefolgt von einem Hund. Der Mann war groß und nicht zu dick und hatte sich mehrere Tage nicht rasiert. Der Bub ging wahrscheinlich noch zur Schule, der Hund war ein rundum wuscheliger brauner Terriermischling mit langen Schlappohren.
    Ottakring überfiel bei dem Anblick ein seltsames Gefühl. Warum hatte er überhaupt auf die drei geachtet? Ein Vater machte mit Sohn und Hund an einem freien Arbeitstag einen kleinen Fahrradausflug.
    Er schüttelte das Empfinden ab und folgte seinem neuen Duzfreund Waller. Hinter sich hörte er den Hund freudig bellen. Eine undeutliche Erinnerung tauchte in Ottakrings Kopf auf, ohne dass er in der Lage war, sie festzuhalten.
    Auch während der nächsten Kilometer ließ ihn dieses eigenartige Gefühl nicht los. Er fühlte sich, als hätte er einen Dieb überrascht. Erwin wunderte sich auf dem Rückweg vermutlich über seine plötzliche Schweigsamkeit. Doch er selbst glaubte fest daran, dass es Zeichen gab, die eine bestimmte Bedeutung verhießen. Er konnte sich in diesem Fall nur nicht vorstellen, welche.
    »Hast du eine Kamera dabei?«, rief er Erwin zu.
    »Nein!«, rief Erwin über die Schulter zurück.
    »Na, dann eben nicht!«, grunzte Ottakring laut. Dann eben nicht.

Rosenheim, Montag, 24.   April 2000
    Als Thorsten

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