Jenseits der Eisenberge (German Edition)
ausgestreckt hatte. Das Spiel war unberechenbar, man konnte die Handlungen seiner Gegner nie absolut voraussagen, und immer wieder wurde alles durcheinandergebracht, wenn ein Element oder ein Feind aus unvermuteter Richtung hinzukam. Sein Ziel war das Spiel zu beenden, egal mit welchen Mitteln. Es hatte ihm seine Mutter geraubt, die vor seinen Augen zu Tode gefoltert wurde, als er noch ein Kind gewesen war. Es hatte ihn den Bruder gekostet, die Liebe und Achtung seines Vaters, und zu viele Menschen, die nicht einmal an diesem Wahnsinn beteiligt gewesen waren. Manchmal wünschte er, diesen Schritt nie gewagt, sondern ein Leben lang als feiger, nutzloser Schwächling auf Schloss Corlin geblieben zu sein. Immer dann, wenn er lange von Kirian getrennt war, all die Lügen, Intrigen und die beständige Angst nicht mehr ertragen konnte. Diese Angst, irgendetwas übersehen, irgendeinen leichtsinnigen Fehler begangen zu haben. Ein ungeschicktes Wort gesagt, ein kaltes Lächeln nicht bemerkt, einen scheinbar unwichtigen Hinweis falsch verstanden zu haben. Seit Jahren hatte er keine Nacht mehr ruhig geschlafen, außer, er befand sich in Kirians Versteck, fernab von allen Spielen und Intrigen. Der Gedanke, dass man ihm seinen Liebsten fortgenommen hatte, einfach nur, um zu zeigen, dass man die Macht dazu hatte, fraß ihn auf.
Albor beschrieb Lys so genau wie möglich die Kleidung, das Wappen und das Aussehen der Männer, die Kirian mitgenommen hatten; er musste ihm sogar die Pferde, deren Sattel- und Zaumzeug schildern, wobei Onkar eine große Hilfe war.
„Was vermutest du?“, fragte Albor lauernd.
„Ich bin mir nicht sicher.“ Lys kaute halb unbewusst auf seiner Unterlippe, wie stets, wenn er nervös oder besorgt war.
„Sie stammen nicht aus Onur, so viel ist gewiss. Bleibt also das Königreich Laymark im Osten – inklusive Rashmind. Die Nordernreiche, Irtrawitt jenseits der Eisenberge, möglicherweise auch die Halbsteppenvölker noch hinter Irtrawitt und die Farkinseln. Be’eltremeyrt und Kinagorsa schließe ich aus.“ Er sah die verständnislosen Gesichter der Räuber und schüttelte innerlich den Kopf. Selbst Albor, der früher als Seiler gearbeitet und sogar lesen und schreiben gelernt hatte, wusste nicht, wovon er sprach. Dabei waren all diese Länder unmittelbare Nachbarn. Nachbarn, mit denen sie kaum Handel trieben und die jederzeit beschließen konnten, die Friedensbündnisse zu vergessen …
„Schon gut“, brummte er. „Ich werde es herausfinden. Sagt mir, wie ich Sveit und Ramin folgen kann.“ Albor erklärte ihm die verschiedenen Zeichen, die von den Räubern genutzt wurden – in Baumstämme eingeritzte Markierungen, die eine Vielfalt von Bedeutungen besaßen, von Warnungen vor Gefahren über Richtungswechsel bis hin zur Anzahl von Leuten, die unterwegs zu der verfolgten Gruppe hinzugestoßen waren.
„Ich schicke die beiden zurück, sollte ich sie finden. Egal worum es hier geht, sie werden mir nicht helfen können.“
„Sag das nicht, sie können kämpfen, und sind sehr schnell, wenn du ’ne Nachricht an jemanden schicken willst“, widersprach Albor, doch Lys schüttelte den Kopf.
„Ich bin mir sicher, dass dies kein Zufall oder Versehen war. Irgendjemand hat Kirian nach Purna in eine Falle gelockt, um mich zu treffen. Ich brauche euch hier, euch alle. Wenn meine schlimmsten Befürchtungen stimmen, wird es bald im ganzen Land unruhig werden. Ihr müsst mir den Rücken freihalten. Informationen sammeln, Weidenburg warnen, sollte ein Angriff vorbereitet werden, und vor allem überleben. Sollte ich Kirian befreien, aber die Hälfte von euch unterwegs in sinnlosen Gefechten verlieren, könnt ihr euch wohl ausmalen, was er mit mir machen würde.“ Mit diesen Worten erhob sich Lys und verabschiedete sich mit einem knappen Nicken von den Männern. Sie wirkten allesamt besorgt und ratlos, was Lys noch bestärkte, sie soweit wie möglich aus dieser Sache herauszuhalten. Keiner von ihnen wusste, was dieses Spiel bedeutete!
Albor begleitete ihn zurück zu den Gardisten. Sie schwiegen beide, jeder in finsteren Gedanken verloren.
„War mit Onkar alles in Ordnung?“, fragte Albor plötzlich.
„Was meinst du? Nun, er hat von meinen Wächtern Prügel bezogen, aber nichts Ernstes.“
„Ich war mir nicht sicher, ob ich ihn schicken soll. Er war vor Kurzem erst erwischt worden. Hat Glück gehabt, der Junge, er wurde ein bisschen bedroht und geschlagen, konnte allerdings abhauen, bevor die
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