Jenseits der Eisenberge (German Edition)
an Lys vorbeigelaufen war, ohne ihn zu bemerken. Die Fürsorge und Treue, die Inur bewiesen hatte, war beeindruckend gewesen, Kumien hätte ihm nicht die Hälfte davon zugetraut. Auf die Idee, dass Inur erwägen könnte, Lys freizukaufen, war er selbst nicht gekommen, obwohl es eigentlich naheliegend war.
Man unterschätzt ihn so leicht … das ist gefährlich. Ich hätte mir eigentlich denken können, dass Erek – nein, Lys! – sich keinen Verbündeten nimmt, der zu dumm ist, seinen eigenen Kopf zu finden …
Hochinteressant, was Lys alles erzählt hatte. Dieser Weg durch die Gebeine des Berges, er hatte schon viele Gerüchte davon gehört. Dass es tatsächlich noch Drachen auf dieser Welt gab … Kostbar, dieses Wissen, das er gegen die Priester nutzen könnte, sollten die ihm zu aufdringlich werden. Auch was es alles über die verschiedenen Adligen Onurs zu hören gegeben hatte …
Doch was Lys sich da in seinem brillanten Kopf zusammengereimt hatte über seine, Kumiens Absichten, das war schmerzhaft.
Einen Gegner zu überschätzen ist fast noch gefährlicher als ihn zu unterschätzen, dachte er, während er leise an den Wagen heranschlich, auf dem der junge Mann schlief.
Da bin ich mir schon so begabt vorgekommen, als ich mir Sorala geholt hatte, aber so viel Kalkül und Voraussicht wie du mir unterstellst hatte ich nicht besessen!
Wäre er heute Nacht nicht hergekommen, vielleicht wäre ihm nie aufgefallen, wie viel Macht er über Onur gewinnen konnte. Gleichgültig ob allein durch Handelsbeziehungen, durch politische Intrigen oder sogar durch einen Überraschungskrieg, wenn er es nur geschickt genug anstellte, könnte Onur in einigen Jahren ihm gehören … Wenn er es wirklich wollte.
Warten wir ab, ob du überlebst, Lys. Ich würde dir nicht die Heimat stehlen wollen, nach allem, was ich dir bereits geraubt habe. Möglicherweise würde ich mir damit einen Gegner schaffen, der mich jederzeit zerquetschen könnte, wenn er nur den Willen zur Vernichtung findet … Danken wir den Göttern, dass sie dir ein solch weiches Herz geschenkt haben, du wärst sonst gefährlicher als jedes andere Wesen dieser Welt.
Wehmütig blickte Kumien auf den schlafenden Mann herab, der sein Leben so vollständig auf den Kopf gestellt hatte. Inurs Frau hatte recht. Du kannst einem nicht gleichgültig sein. Ich liebe dich, und ich begehre dich, ich beneide dich und ich würde alles geben, dich unterwerfen und besitzen zu können!
Zärtlich strich er eine Strähne aus Lys’ Stirn, verharrte, als der junge Mann sich zu regen begann, atmete erleichtert auf, als er wieder stilllag und weiterschlief.
„Ich wünschte, es wäre alles anderes gekommen“, wisperte er fast unhörbar. „Ich wünschte, ich könnte dir sagen, wie sehr ich dich liebe, und dass ich dich weder als Marionette missbrauchen noch sonst irgendwie verletzen wollte. Dass ich dir meine Zuneigung nicht vorgespielt habe.“ Kumien beugte sich vor und küsste zum letzten Mal Lys’ Mund, ganz sacht nur, um ihn nicht zu wecken. „Vergib mir, Lyskir von Corlin. Irgendwann einmal werden wir uns vielleicht wiedersehen, wenn es den Göttern gefällt, und vielleicht sind wir dann keine Feinde.“ Er schüttelte über sich selbst den Kopf. „Du musst mich so sehr hassen für all das, was ich dir angetan habe. Gib nicht auf. Ich sehe keinen Weg, wie das hier gut enden soll, aber wenn es einen gibt, nutze ihn. Gib nicht auf.“
Kumien schnellte ruckartig hoch, als er Stimmen in der Halle hörte – die Sklavenaufseher. Er musste fort, war schon viel zu lange hier geblieben, um Geheimnisse zu flüstern, die niemand je hören durfte. Rasch zog er seinen schwarzen Umhang enger um den Körper, die Kapuze tief ins Gesicht und schlich davon, zu der geheimen Tür, durch die er auch in den Hof hineingelangt war.
Lys hob den Kopf und blickte dem Schatten hinterher, der plötzlich mit der Südmauer zu verschmelzen schien. Kumiens Worte waren Balsam für seine tief verletzte Seele gewesen, doch heilen würde diese Wunde wohl nie. Er war müde. Zu müde für Hass, für Verständnis, für Hoffnung. Die Augen schlossen sich von allein, Schlaf überrollte ihn nun wie eine dunkle Flut.
Irgendwann, Kumien ..., dachte er, bevor er endgültig versank,
irgendwann … und dann werde ich mich rächen …
Ende Teil 2
Nachwort
Es hat alles mit einer kleinen Kurzgeschichte angefangen, die man mich gebeten hatte, für eine Anthologie zu schreiben. Rund fünfundzwanzig Seiten
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