Jenseits der Eisenberge (German Edition)
erschöpft, um Wut zu empfinden, oder Verzweiflung. Oder überhaupt irgendetwas.
„Habt Vertrauen. Ich werde das Amulett weitergeben, wie ich es versprochen hatte. Geht nun, versucht zu schlafen.“ Der Priester schien mit den Schatten zu verschmelzen, so lautlos und rasch verschwand er.
Er ließ seine Füße den Weg zurück zu seinen Gasträumen wählen. Er vertraute den Priestern, die so viel riskiert hatten, indem sie sich dem Willen des Königs widersetzten. Doch demjenigen, der seinen Sohn retten sollte, würde er niemals vertrauen. Es gab nur wenige Menschen, die er noch lieber tot sehen wollte als ihn.
1 .
„Herr?“
Der junge Mann rührte sich nicht, sondern visierte weiterhin konzentriert mit seinem Langbogen die Zielscheibe in mehr als vierhundert Schritt Entfernung an. Lyskir von Corlin, Erbe von Lichterfels, Herr der Weidenburg und zukünftiger Thronfolger – all dies waren Titel, die zu ihm gehörten. Ihn interessierte im Augenblick nur der winzige schwarze Fleck in der Mitte der Scheibe, den er aufgrund der großen Distanz nicht mehr wahrhaftig sehen konnte. Er wusste lediglich, dass er dort war, das genügte ihm. Seit zwei Jahren bildete er seine Soldaten an dieser Waffe aus, die in Onur kaum genutzt wurde; dadurch gehörten seine Männer mittlerweile zu den besten Bogenschützen des ganzen Kontinents. Der übrige Adel betrachtete den Bogen als reine Jagdwaffe. Ihn im Kampf einzusetzen galt als unehrenhaft und feige, nur das Schwert war eines wahren Kriegers würdig und allenfalls Söldner durften ihrer Meinung nach einen Bogen oder gar eine Armbrust benutzen.
Lys hatte schon vor langer Zeit gelernt, dass Ehre ein Luxus war, den man sich bei einem ehr lichen Duell erlauben konnte. Wer überleben wollte, wenn die Feinde aus dem Hinterhalt und in Überzahl angriffen, kam mit Feigheit weiter.
Er entließ den Pfeil, der einen sanften Bogen beschrieb und ins Schwarze traf, wie die rote Flagge des Helfers bewies, die sofort hochgereckt wurde. Erst danach wandte er sich dem Mann zu, der mit schlecht verborgener Ungeduld auf ihn wartete.
„Was gibt es, Foryth?“
„Herr, wir haben einen Eindringling gefangen genommen. Erst dachten wir, es sei einfach nur ein Landstreicher, der etwas zu Essen stehlen oder erbetteln wollte, aber dann fanden wir das hier bei ihm.“ Er streckte Lys einen Dolch entgegen. Ein wahres Prachtstück, dessen silberner Griff wie ein springender Löwe geformt worden war. Einen Moment lang schloss Lys die Augen. Dieser Dolch gehörte Kirian.
Dem Mann, den er mehr liebte als sein eigenes Leben.
Kaum jemand wusste, dass der gefürchtete Sheruk, der Anführer einer Räuberbande, in Wahrheit ein geächteter Hochadliger war. Es gab unzählige Legenden und Erzählungen über die angebliche Feindschaft zwischen dem jungen Fürst Lyskir und dem Räuber. Das Volk genoss es, wie Kirian immer wieder den Häschern entkam, die Lys zu seiner angeblichen Verfolgung aussandte. In den Legenden, von denen Lys und Kirian viele selbst erfunden hatten, spielte der Dolch eine entscheidende Rolle. Er galt als das einzige sichere Erkennungsmerkmal, da es von Kirian wenigstens ein Dutzend voneinander abweichende Beschreibungen gab.
„Wir glauben nicht, dass der Gefangene selbst Kirian ist, Herr. Es ist ein junger Bursche, jünger als Ihr, und viel zu dürr für einen Sheruk. Aber der Dolch hier ist keine der billigen Fälschungen, die überall auftauchen, also wird er vielleicht etwas über Kirian wissen?“ Der Soldat – ein untersetzter Mann mittleren Alters, der mit zu den Elitebogenschützen gehörte – zeigte mit keiner Bewegung, dass er die Gefühlsregung seines gewöhnlich eisern beherrschten Fürsten bemerkt hatte. Foryth gehörte nicht zu den wenigen Eingeweihten: Er glaubte wie die meisten fest daran, dass Lys vor zwei Jahren von Kirian entführt und erbarmungslos gefoltert worden war. Nun, Folter hatte Lys ertragen müssen, doch von anderer Hand, und Kirian war derjenige gewesen, der ihn gerettet hatte.
Für einen Moment spiegelte sich Mitgefühl in Foryths grauen Augen. Er wusste um die Narben, die sein Herr vor der Welt verbarg, auch wenn er die wahre Geschichte nicht kannte.
Lys fühlte sich stets wie ein Verräter, wenn er sah, wie wirksam seine Lügen tatsächlich waren. Manchmal war er selbst nicht mehr sicher, an welche der unzähligen Facetten der Wahrheit er glauben sollte … Und ob er überhaupt noch Mitgefühl verdient hatte, so, wie er alle Menschen belügen und
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