Jenseits der Finsterbach-Brücke
zurück. Er liebt nicht und hasst nicht.«
»Meinen Vater muss er hassen«, sagte ich. »Sonst hätte er ihn doch nicht töten wollen, oder? Warum hasst er ihn so sehr?«
»Der Kjerk«, sagte Joern, »tötet, um zu töten.«
»Ja«, sagte ich, »aber nicht der Weiße Ritter. Nicht er! Er hat uns zweimal das Leben gerettet. Und er war so einsam, Joern. So unglücklich. Ich habe es gespürt.«
»Heute Nacht«, sagte Olaf grimmig, »werden wir alle Türen abschließen auf dem Norderhof. Niemand soll die Außenlichter löschen. Und wir Männer werden nicht schlafen. Das Böse ist hier, und wo das Böse ist, muss jemand Wache halten.«
»Wir haben es hereingelassen«, sagte Almut. »Wir haben den Weißen Ritter hereingelassen.«
»Ach was!«, sagte Frentje sehr bestimmt. »Das war nicht eure Schuld. Auf die romantische Geschichte mit dem Brief und allem wäre ich sicher auch hereingefallen.«
Wir hatten ihnen alles erzählt, mehrere Male, und wir hatten beinahe nichts verschwiegen – nur die Sache mit den Ringen. Denn in den Ringen steckte je ein Stück Nachtspat und jeder wusste, woher der Nachtspat kam. Gerade jetztwar ein denkbar schlechter Zeitpunkt, den anderen zu sagen, woher Joern wirklich kam. Es reichte aus, dass Frentje und Almut Bescheid wussten.
Schließlich hörten wir die Pferde auf dem Hof schnauben und gleich darauf standen Flint und Johann in der Küche. Alle sprangen auf und machten erwartungsvolle Gesichter, doch Flint und Johann schüttelten die Köpfe.
»Nichts«, sagte Johann. »Keine Spur von Nordwind. Das Tor am Ende der Straße stand offen. Der Fremde ist fort. Nur ein Moped haben wir gefunden, verborgen im Gestrüpp neben dem Stall. Ein Moped ohne Kennzeichen. Keiner kann sagen, woher der Fremde genau kam. Da draußen gibt es eine Menge Orte. Hunderte. Tausende.«
Joern zog den Briefumschlag aus der Tasche und legte ihn auf den Tisch und alle beugten sich über den Stempel auf der Briefmarke.
»Dieser Stempel ist nicht nur verschmiert, ich wette, er ist auch gefälscht«, sagte Johann. »Kam der Brief mit der normalen Post?«
»Ja«, sagte ich.
»Nein«, sagte Joern.
Ich sah ihn verwundert an.
»Der Postbote fuhr ein Moped, Lasse«, sagte Joern leise. »Und er hatte verdammt dicke Brillengläser.«
»Und den Schal bis über die Nase gezogen«, sagte ich. Da begriff ich. Der Postbote war kein Postbote gewesen. Er und der Weiße Ritter waren ein und dieselbe Person.
Alle redeten plötzlich wieder einmal durcheinander, berichteten Flint und Johann, was wir erzählt hatten, rätselten und vermuteten wie Hobbydetektive in einem schlechten Film und schließlich räusperte sich Flint. Er hatte bis jetzt geschwiegen.
»Joern«, sagte er.
Alle verstummten.
»Ja?«, fragte Joern und ich hörte die Angst in seiner Stimme. Er war der Einzige, der nicht hierher gehörte. Seit seiner Ankunft waren all diese Dinge geschehen. Dachte Flint, Joern hätte etwas mit dem Weißen Ritter zu tun?
»Ich wollte mich bei dir bedanken«, fuhr mein Vater fort und drückte Joerns Hand wie die eines erwachsenen Mannes. »Dafür, dass du mein Leben gerettet hast. An mir vorbei auf die Tür zu schießen war genau das Richtige. Ohne dich hätte ich mich nicht umgedreht. Und ich hätte jetzt eine Kugel tief in meinem Kopf stecken.«
»Ich … habe nicht auf die Tür geschossen«, sagte Joern verlegen. »Ich habe auf den Weißen Ritter geschossen. Nur habe ich ihn nicht getroffen. Ich bin nicht sehr gut im Treffen von Dingen.«
Flint lächelte. »Das erinnert mich an jemanden.«
»An meine Mutter!«, platzte ich heraus und er nickte. »Genau, an Lasses Mutter. Ich hätte nicht gedacht, dass ihr Bogen einmal helfen würde, mir das Leben zu retten.«
Da sagten alle, wie wunderbar Joern das gemacht hätte, und wie stolz war ich auf meinen Freund! Meinen Freund, der die Feuerleiter hochgeklettert war und mit meinem Bogen geschossen hatte. Meinen Freund, der meinen Vater gewarnt und den Weißen Ritter verjagt hatte.
»Aber jetzt haben wir genug geredet«, meinte Flint. »Jetzt ist es Zeit, nachzusehen, was sich hinter der versteckten Tür im Keller verbirgt. Johann, kommst du mit?«
»Wir kommen auch mit!«, riefen Almut und ich gleichzeitig.
»Auf keinen Fall«, sagte Flint.
»Auf jeden Fall«, sagte ich. »Möglicherweise muss man dir wieder das eine oder andere Leben retten. Und wer soll das tun, wenn wir nicht dabei sind?«
Flint knurrte nur. Dann drückte er mich ganz kurz an sich und sagte nur
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