Jenseits der Finsterbach-Brücke
kannte ich. Vor nicht allzu langer Zeit hatte ich mich hinter Joern an ihren Wänden entlanggetastet, in vollkommener Dunkelheit und mit dem Keuchen des Kjerks in den Ohren.
»Das ist seine Höhle!«, flüsterte ich. »Die Höhle des Kjerks! Hierher hat er sich zurückgezogen, als ich ihn mitmeinem Pfeil getroffen hatte, so wie wir es euch erzählt haben!«
»Es gibt zwei Ausgänge mit gemauerten Treppen«, sagte Joern. »Die Höhle muss früher als Bunker benutzt worden sein.«
Wir leuchteten in alle Ecken und Winkel der Höhle, liefen alle Gänge ab, die wir finden konnten – und diesmal waren es nicht mehr Hunderte von Gabelungen, sondern nur noch drei. Die meisten Gänge endeten blind. Vom Kjerk jedoch fehlte jede Spur. Wir zeigten Flint und Johann die Stelle, wo ich in dem trockenen Bachbett ausgerutscht war, und dort fanden wir drei nachtblaue Federn.
»Er war hier«, flüsterte ich. »Das ist der Beweis. Wir haben es uns nicht eingebildet.«
»Er war hier, ja«, sagte Joern. »Aber es ist, als hätte er den Wald zusammen mit dem Weißen Ritter verlassen.«
»Glaubst du«, fragte ich verwirrt, »der Weiße Ritter hat den Kjerk mitgebracht? Und wieso wollte er Flint töten?«
Darauf wusste keiner eine Antwort. Wir kletterten die nächste Treppe hinauf ans Tageslicht, das bereits dämmerig wurde. Der Wind hatte begonnen, sich zu einem richtigen Sturm auszuwachsen. Die Bäume bogen sich, als wiegten sie sich in einem Tanz. Ihre Stämme knackten und trockene Blätter wirbelten knisternd um uns auf.
»Das wird eine Nacht, in der man gut daran tut, im Haus zu bleiben«, sagte Flint und nahm meine Hand.
Doch ich zog meine Hand weg.
»Ich bin schon zwölf«, sagte ich. »Mich braucht man nicht mehr an der Hand zu nehmen. Ich bin alt genug, alleine durch einen Sturm zu gehen, und außerdem bin ich alt genug für die Wahrheit. Meine Mutter hätte mir die Wahrheit gesagt. Wenn der Sturm vorüber ist, werde ich zu der Linde gehen und wer weiß, vielleicht spricht sie mit mir.«
Ich sagte das nur, damit Flint mir endlich selbst erzählte, was ich wissen musste. Aber er schwieg. Und die Linde überlebte die Nacht nicht und meine Mutter sagte mir auf ganz eigene Weise die Wahrheit. Doch zuerst geschah etwas ganz anderes.
Wir merkten erst beim Zubettgehen, dass Flop fehlte.
»Ich dachte, er hätte sich irgendwo in der Küche verkrochen«, sagte Joern kläglich. »Und Frentje dachte, er wäre bei uns, und nun ist er nirgendwo und was machen wir jetzt?«
Ich trat ans Fenster und sah hinaus in den Sturm. »Da draußen finden wir ihn nicht«, sagte ich. »Nicht, wenn er in den Wald gelaufen ist.« Und als ich Joerns unglückliches Gesicht sah, fügte ich schnell hinzu: »Er kommt wieder, Joern. Morgen früh sitzt er vor der Tür und jault und hat Hunger, wetten?«
»Und der Kjerk?«, fragte Joern. »Was, wenn er doch noch da ist? Wenn er genauso im Norderwald lauert wie zuvor und wenn er Flop …« Er sprach nicht weiter. Plötzlich hörte er sich gar nicht mehr klug an, mein Freund, sondern nur noch verzweifelt.
»Ich muss raus!«, rief er und griff nach seiner alten grauen Jacke. »Ich muss raus in den Wald und ihn suchen!«
»Das wirst du schön bleiben lassen«, sagte ich entschlossen. »Ich lasse meinen einzigen Freund nicht allein in einen Wald gehen, in dem vielleicht ein Kjerk herumläuft und vielleicht ein Mörder und wer weiß was noch alles.«
»An meinem ersten Abend hier«, sagte Joern, »da hast du mich gehen lassen!«
»Ja«, sagte ich. »Dumm von mir.«
Ich nahm ihm die Jacke sachte aus der Hand und setzte mich zu ihm aufs Bett.
»Alle Türen sind verschlossen«, sagte ich. »Du kannst gar nicht hinaus.«
»Ich bin ein Gefangener«, sagte Joern bitter. »Ein Gefangener in einem Märchen. Manchmal merke ich, wie wenig ich hierher gehöre.«
»Natürlich gehörst du hierher!«, rief ich. »Du bist mein Freund!«
»Aber einen Freund«, sagte Joern bitter, »darf man nicht einsperren.«
Dann drehte er sich zur Wand und schwieg. Ich schlüpfte zurück in mein Bett und tat so, als wäre ich im nächsten Moment eingeschlafen. Doch in Wirklichkeit lag ich wach und lauschte Joerns Atemzügen. Sie waren unregelmäßig und abgehackt.
Er schlief nicht.
Da lag er, mein Freund aus der Schwarzen Stadt. Mein kluger, vernünftiger Freund, der lächelte, weil ich romantische Worte liebte wie Finsterbach und Todesschlucht. Da lag er und weinte und wollte nicht, dass ich es wusste.
Sie vermissen dich
A
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