Jenseits der Finsterbach-Brücke
noch: »Zieht Jacken an. Es wird kalt sein dort unten, was immer dort unten bedeutet.«
Hinter uns hörten wir Frentje murmeln, sie würde Abendessen für alle kochen, während wir uns im Keller erschießen ließen, und als wir die Kellertür öffneten, drang als Letztes Toms Protestgebrüll aus der Küche. Er wollte natürlich ebenfalls mit, doch er hatte keine Chance. Frentje hielt ihn fest.
Diesmal knipsten wir alle Lichter im Keller an. Die Ritterrüstung sah uns aus ihrem hohlen Visier so augenlos und geheimnisvoll an wie immer. Als Flint das Visier zurückklappte, gab es im Inneren nichts als Spinnweben. Beinahe enttäuschte mich das.
Kurz darauf entriegelte Johann die geheimnisvolle Tür und wir betraten hinter ihm den Gang. Er und Flint trugen starke Taschenlampen, aber trotzdem war mir unbehaglich zumute.
»Was ist, wenn er zurückkommt und plötzlich vor uns steht?«, flüsterte ich.
»Der ist weit weg«, sagte Flint. »Mörder sind feige Hunde. Ich frage mich eher, ob er allein gekommen ist. Die meisten feigen Hunde kommen nicht allein.«
Eine Weile gingen wir stumm den Gang entlang, weiter und weiter. Wir mussten den Norderhof längst verlassen haben und uns unter dem Wald befinden. Ich schauerte bei dem Gedanken daran, dass der Kjerk vielleicht gerade jetzt über uns seine grellgelben Flammen in den Himmel spuckte oder seine riesigen Krallen an einem Baumstamm wetzte. Sicher gefiel ihm der wilde Wind, der da oben in den Ästen heulte.
»Wegen dieser alten Rüstung im Keller«, sagte Flint nach einer Weile und in seiner Stimme schwang ein Lächeln mit, »habe ich den Weißen Ritter erfunden.«
»Du hast ihn erfunden?«, fragte ich, etwas lauter als geplant. Meine Stimme hallte von den Wänden des Ganges wider und ich erschrak.
»Ja«, antwortete Flint. »Hast du das schon vergessen? Ich habe dir von ihm erzählt, als du klein warst. Nur er kann den Kjerk besiegen. Er ist stumm und niemand hat je sein Gesicht gesehen. Er ist der einsamste Mann, den es gibt, und er zieht durch die Wälder, um den Menschen zu helfen …Neulich habe ich Tom davon erzählt, aber er konnte sich den Namen Kjerk nicht merken.«
Ich versuchte meine Gedanken zu ordnen. Da fragte Joern etwas Komisches.
»Wann?«, fragte er.
»Wann ich Tom die Geschichte erzählt habe?« Flint überlegte. »Es war kurz bevor der Kjerk im Norderwald auftauchte.«
»Wo?«, fragte Joern. »Ich meine: Wo haben Sie ihm das erzählt?«
»Wir saßen auf der Bank am Rand der Pferdekoppel«, antwortete Flint. »Dort, wo man den Wald im Rücken hat und die Sonne im Gesicht. Was bedeuten all diese Fragen, Joern?«
»Jemand«, sagte Joern, »hat der Geschichte zugehört. Jemand ist der Weiße Ritter geworden, weil es den Weißen Ritter schon gab. In der Geschichte. Es war alles viel zu einfach.«
Flint schien einen Moment zu zögern. »Lasse«, sagte er dann, »du hast einen klugen Freund. Aber sage mir, kluger Freund, warum hast du Lasse die Tür im Keller öffnen lassen? Hattest du keinen Verdacht?«
»Ja«, sagte Joern. »Nein. Doch. Ich habe sie ihn öffnen lassen, weil hier alles so anders ist. Hier kann ich nicht entscheiden, was Sinn ergibt und was nicht. Was ein Märchen ist und was nicht. Es ist nicht wie in meiner Welt.«
Ich biss mir auf die Zunge. Wenn er jetzt nur nichts vonder Schwarzen Stadt sagte, mein dummer kluger Freund! Wenn er jetzt nur nicht alles vermasselte!
»Märchen sind nie wahr«, sagte Flint bestimmt. »Nicht hier und nirgendwo sonst. Alles Schöne ist nur Schein. Die Wirklichkeit ist immer hart und kalt und grausam. Merk dir das, Joern. Merk es dir ein für alle Mal.«
Ich spürte, dass es nicht Joern war, zu dem er diese Worte sagte. Und sie waren auch nicht für mich oder Johann bestimmt. Flint hatte die Worte zu sich selbst gesagt. Als hätte ihn die harte, grausame Wirklichkeit nach langer, langer Zeit wieder eingeholt.
Aber was war die Wirklichkeit? Was verschwieg mein Vater mir?
Den Rest des Weges über schwiegen wir und schließlich fiel das Licht von Johanns Taschenlampe auf eine weitere Tür. Er öffnete sie und die Angeln quietschten wie ein verwundetes Tier. Ich dachte wieder an den Kjerk und daran, wie ich auf ihn geschossen hatte. Johanns Lampe erleuchtete etwas, das einer Höhle glich. Wir gingen hinein, vorsichtig um uns spähend, doch es gab hier nichts als Geröll und modrige alte Blätter. Am Ende der Höhle erreichten wir einen weiteren, kurzen Gang und danach noch eine Höhle. Diese Höhle
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