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Jenseits der Finsterbach-Brücke

Jenseits der Finsterbach-Brücke

Titel: Jenseits der Finsterbach-Brücke Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antonia Michaelis
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m nächsten Morgen wachte ich von einem merkwürdigen Geräusch auf. Es dauerte eine Weile, bis mir klar wurde, dass es das Geräusch von Schlüsseln war. Flint öffnete alle Türen, die er am Abend zuvor abgeschlossen hatte: die vordere Haustür, die Hintertür, die beiden Seitentüren – das alte Gutshaus hatte eine Menge Türen. Früher hatten wohl auch eine Menge Leute darin gewohnt. Manchmal fand ich es schade, dass es nun so viele leere Zimmer besaß.
    Aber an diesem Morgen dachte ich nicht an die leeren Zimmer. Ich dachte daran, dass auf dem Norderhof noch nie einer seine Türen abgeschlossen hatte, und ich fragte mich, ob es nun bis in alle Ewigkeit so sein würde. Es war ein schrecklicher Gedanke.
    »Joern?«, flüsterte ich. »Schließen sie in der Schwarzen Stadt ihre Türen ab?«
    »Ja, und sie legen Riegel und Ketten vor«, antwortete Joern, »und sie haben Gucklöcher in den Türen, um nachzusehen, wer draußen ist, wenn es klingelt. Niemand traut dem anderen. Seht nur zu, dass euch die Schwarze Stadt nicht hereinkommt hier in den Norderwald.«
    »Wie meinst du das – hereinkommt?«, fragte ich.
    Doch Joern antwortete nicht, denn in diesem Augenblick bellte unten jemand laut und aufgeregt.
    »Siehst du«, sagte ich und war sehr erleichtert. »Er ist zurückgekommen.«
    »Flop!«, rief Joern, warf die Decke zurück und zog hastig seine Kleider an. Trotzdem sah ich, dass die blauen Flecke blasser geworden waren. Wenn er noch ein wenig bliebe, hier bei uns auf dem Norderhof, dann würden sie ganz verschwinden und irgendwann würde auch die Schwarze Stadt aus seiner Erinnerung verschwinden. Er würde sie einfach vergessen, dachte ich: die Gucklöcher in den Türen, den Kohlenstaub, das Bergwerk, die Fabrik und den Großen, der all das besaß und den alle so hassten. Die enge Wohnung würde er vergessen und seine großen Brüder, die sich ständig stritten.
    Als ich in die Küche kam, saß Joern auf dem Fußboden und streichelte seinen Hund. Flop sah dreckig und erschöpft aus. Flint rührte in einem Topf voll Kakao, der auf dem Herd vor sich hin blubberte. Der Sturm war vorübergezogen und draußen breitete sich zaghaft das goldene Sonnenlicht aus.
    »Ein Glück«, sagte ich und ließ mich auf die Küchenbank fallen. »Damit ist alles wieder in Ordnung, oder?«
    Da sah Joern zu mir auf und sein Gesicht war sehr ernst. Erst jetzt bemerkte ich, dass er etwas in der Hand hielt. Einen Brief. Joern setzte sich neben mich und flüsterte mir zu: »Flop hat ihn mitgebracht. Er war zu Hause bei meinerFamilie. Die Sache gestern muss ihn so erschreckt haben, dass er den ganzen Weg zurück in die Schwarze Stadt gelaufen ist. Hier, lies!«
    Da kam Flint mit dem Kakaotopf herüber an den Tisch. Schnell reichte ich ihm die Zeitung.
    »Du liest doch so gerne beim Frühstück«, sagte ich.
    Flint runzelte die Stirn. »Sonst sagst du immer, du findest das blöd.«
    »Heute nicht«, sagte ich großzügig. »Lies ruhig. Wir lesen auch ein bisschen.«
    Ich wartete, bis Flint kopfschüttelnd hinter der Zeitung verschwunden war. Dann nahm ich selbst ein Stück Zeitung zur Tarnung und entfaltete dahinter Joerns Brief. Die krakelige Schrift darauf war mit einem Kugelschreiber geschrieben und an manchen Stellen verschmiert.
    Lieber Joern, stand da.
    Wir hoffen alle, es geht dir gut. Sicher ist es da, wo du bist, besser als hier.
    Mama wollte dich suchen, aber Onnar hat gesagt, sie soll nicht, weil, du hast ja Flop mitgenommen, also bist du wirklich abgehaun. Onnar meint, wenn dir was passiert wär, wär Flop gleich zu uns gekommen. Heut Nacht hab ich ihn vor der Tür gefunden, als ich nach Hause gekommen bin. Ich schick ihn mit dem Brief zurück, weil er dich als Einziger finden kann und damit du weißt, was hier so los ist.
    Im Bergwerk und in der Fabrik haben sie noch drei Tage lang gestreikt. Die Chefs haben jeden Tag gesagt, der Große weigert sich, mit den Leuten zu reden. Aber der Große war überhaupt nicht da. Pöhlke hat sich aufgeführt und Reden darüber gehalten, wie er allen helfen wird. Niemand hat zugehört.
    An diesem Abend haben sie Onnar verhaftet. Sie haben in unserem Kellerstück zwischen den Kartoffeln und den Bierflaschen eine Kiste Nachtspat gefunden. Richtig große Stücke, ungeschliffen. Im Bergwerk ist vor einer Weile Nachtspat weggekommen. Onnar hat nichts gesagt. Er war sehr blass. Ich glaub, er hatte Angst.
    Mit den Edelsteinen hätten wir verdammt noch mal ne Menge Sachen kaufen können. Vielleicht

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