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Jenseits der Finsterbach-Brücke

Jenseits der Finsterbach-Brücke

Titel: Jenseits der Finsterbach-Brücke Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antonia Michaelis
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sie bestimmt, »und holt uns hier raus. So über einen Freund zu denken! Nein, pfui, Lasse, schäm dich!«

Das Blut des Herrn vom Norderwald
    J oern stand einen Moment auf dem Hof und sah sich um.
    Die Feuerleiter. Der Turm winkte mit dunkelgrünen Efeuranken. Er schulterte Lasses Bogen, mit dem er ja doch nichts anfangen konnte, und rannte los.
    Es waren nur ein paar Schritte. Efeu bedeckte den ganzen Turm, und hätte Joern nicht gewusst, dass dort eine Feuerleiter war, er hätte sie nicht gesehen. »Bleib«, befahl er Flop und Flop legte sich flach auf den Boden. Seine Ohren zuckten nervös und sein kleiner Körper zitterte vor Anspannung.
    Joern begann die Feuerleiter hochzuklettern. Sie war sehr, sehr hoch. Der Turm zog sich über mehrere Stockwerke und Joern zwang sich, nicht hinunterzusehen. Während er höher und höher stieg, sagte er lautlos immer die gleichen Worte vor sich hin, wie ein Gebet: Er ist gut, der Weiße Ritter vom Wald. Er wollte uns nicht einschließen. Er ist gut, der Weiße Ritter vom Wald …
    Doch als er beinahe oben war, merkte er, dass seine Lippen andere Worte formten: Das Blut des Herrn vom Norderwald, das Blut des Herrn vom Norderwald. Und er erschrak vor diesen Worten.
    Die Feuerleiter endete an einer winzigen Plattform, gerade groß genug, um darauf zu stehen und sich am Geländer festzuhalten. Vor der Plattform befand sich ein Fenster im Turm, zusammengefügt aus Stücken von farbigem Glas. Vielleicht war es ein Bild. Doch Joern blieb keine Zeit, das Fenster zu bewundern. Er sah, dass die beiden Fensterflügel einen Spalt weit offen standen, hakte seinen Finger dazwischen und zog sie vorsichtig ein wenig weiter auf, um hindurchsehen zu können.
    In der Mitte des Turmzimmers saß Lasses Vater Flint an einem großen Schreibtisch und starrte auf den Bildschirm eines Computers. Irgendwie erstaunlich, dachte Joern, dass es in dieser Welt Computer gab. Das Licht des Bildschirms malte eine unwirkliche Maske auf Flints Gesicht. Hinter ihm trat genau in diesem Moment jemand ein: lautlos, unbemerkt, seine Bewegungen langsam wie in Zeitlupe, gleitend und elegant. Der Weiße Ritter. Er schloss die Tür hinter sich, ohne ein Geräusch zu machen.
    Jetzt! , dachte Joern. Jetzt wird er zu Flint an den Schreibtisch treten, wird ihm die Hand in seinem weißen Handschuh auf die Schulter legen und ein tiefer Schlaf wird über Flint fallen. Der Weiße Ritter wird Flints Handrücken mit seinem Schwert einritzen, nur ein wenig …
    Der Weiße Ritter machte einen Schritt ins Zimmer hinein und griff langsam in eine Tasche an seinem Gürtel. Was er herauszog, war kein Schwert. Joern spürte, wie ihm schwindelig wurde, und klammerte sich am Geländer der Plattform fest.
    Es war eine Pistole.
    Der Weiße Ritter hob sie und zielte auf Flints Hinterkopf.
    Nein!, dachte Joern. Das war alles falsch. Er wusste aus den Büchern der Leihbücherei, was richtig war. In die Hände eines Ritters gehörte ein Schwert, keine Pistole. Es war, als senkte sich ein Schleier aus schwarzem Ruß über das Bild vor Joern. Oder war es nur das glänzende Schwarz der Waffe, das sich in seinem Kopf ausbreitete?
    Er musste etwas tun. Er musste Flint warnen. Er musste schreien. Doch würde der Weiße Ritter dann nicht auf ihn schießen?
    Der Bogen, Joern , flüsterte Lasse lautlos in seinem Kopf. Nimm meinen Bogen!
    Joern nahm ihn von der Schulter und legte einen der beiden Pfeile an. Es war natürlich Unsinn. Er würde nichts und niemanden damit treffen. Überhaupt konnte ein Pfeil dem Weißen Ritter nichts anhaben unter seinem Panzer. Aber dies war alles, was Joern tun konnte.
    Er spannte die Bogensehne, wie Lasse es ihm so oft gezeigt hatte. Flint tippte etwas auf seiner Computertastatur. Der Weiße Ritter entsicherte die Pistole mit einem leisen Klicken, doch das Klicken der Tasten war lauter und so hörte Flint ihn nicht.
    Dann löste sich die Kugel. Aber nein, nein, es war ein Pfeil, der sich zuerst löste! Joern hatte die Sehne zurückschnellen lassen. Der Pfeil schoss quer durch Flints Arbeitszimmer und blieb auf der anderen Seite einen ganzen Meter neben dem Weißen Ritter in der Tür stecken. Flint sah auf. Im gleichen Augenblick feuerte der Weiße Ritter seinen Schuss ab, doch da Flint den Kopf bewegt hatte, traf die Kugel ihr Ziel nicht. Sie schlug mit einem seltsam künstlichen Krachen in den Bildschirm ein.
    Joern legte den zweiten Pfeil an, während Flint aufsprang und sich umdrehte. Er blickte direkt in den Lauf der

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