Jenseits der Finsterbach-Brücke
wildes Haar und blitzte mich aus ihren braunen Augen an. »Natürlich sehe ich ihn wieder«, sagte sie. »Sobald wir die Sache mit dem Kjerk hier erledigt haben. Und wenn ich den ganzen Weg in die Schwarze Stadt ohne dich gehen muss.«
»Du spinnst«, sagte ich. »Erklär mir mal, was du in der Schwarzen Stadt willst!«
»Joern helfen«, antwortete Almut. »Er hat uns geholfen, also helfen wir ihm. Da gibt’s nichts zu erklären.«
Ihre Worte nagten beim Mittagessen in meinem Kopf wie Holzwürmer. Ich bekam fast nichts herunter, doch keiner merkte es, weil Doktor Bartens noch immer da war, und Doktor Bartens aß für zwei.
»Seht nur zu, dass ihr herausbekommt, was vor sich geht auf dem Norderhof«, sagte er. »Man kann ja kaum noch ruhig schlafen. Ein Glück, dass die Reifen wieder heil sind.«
»Ja, es war eine ziemliche Arbeit, sie zu flicken«, knurrte Olaf. »Mit Gemüse kenn ich mich aus und mit Erde, aber Erde eignet sich so schlecht zum Flicken von Reifen …«
Doktor Bartens lachte. Bevor er aufbrach, sah er noch einmal nach Tök, der auf einer Decke auf dem Fußboden lag. Tök wedelte mit dem Schwanz, aber ich fand, dass er traurig aussah. Bestimmt vermisste er den kleinen schwarzen Ball, der sonst um ihn herumsprang.
»Tök wird schon wieder«, sagte Doktor Bartens. »Frentje, sieh zu, dass du die Wunde schön sauber hältst. Wenn ich das nächste Mal vorbeikomme, ist er sicher ganz der Alte. Dann kann ich den Faden aus der Naht ziehen.«
»Ich frage mich schon seit einer Weile«, murmelte Olaf nachdenklich, »wie das mit dieser Wunde eigentlich ist. Irgendwo habe ich mal gelesen, Bisswunden dürfte man gar nicht nähen.«
»Es war keine Bisswunde«, sagte Doktor Bartens erstaunt. »Dazu ist sie viel zu glatt.«
»Keine Bisswunde?«, fragte ich.
»Doch«, sagte Almut und schauderte. »Es war eben ein Tier mit sehr, sehr scharfen Reißzähnen.«
Doktor Bartens schüttelte den Kopf. »Nein«, sagte er bestimmt, ehe er sich umdrehte und zu seinem Auto ging. »Es war ein sehr, sehr scharfes Messer.«
Ich wollte ihm nachrennen, ihn fragen, wie er sich da so sicher sein konnte. Aber in diesem Moment drängte sich Johann an Doktor Bartens vorbei und kam in die Küche gestampft. Er legte eine Säge auf den Tisch und atmete tief durch.
»Jetzt gibt es keine Linde mehr auf der Lichtung«, sagte er. »Und das ist gut so. Man muss vergessen.«
Frentje gab ihm einen Teller mit Kartoffeln, doch ich starrte ihn nur entsetzt an.
»Was hast du mit der Linde gemacht, Johann?«, fragte ich. »Du … du hast sie doch nicht einfach abgesägt?«
Ich merkte, dass Tränen in meinen Augen standen, ähnlich wie die Tränen in Flints Augen an diesem Morgen.
Johann legte die Gabel beiseite und sah mich ernst an. »Nein, Lasse«, sagte er. »Ich habe sie nicht einfach abgesägt. Der Sturm hat sie kurz über dem Boden abgeknickt. Flint hat es heute Vormittag bemerkt und mich gebeten, sie abzusägen, damit sie nicht so tot und traurig auf der Lichtung stehen muss. Jetzt gibt es nur noch einen schönen kleinen Baumstumpf, wo einmal die Linde stand. Man kann gerade eine Flasche Saft darauf abstellen.«
Er griff in seine Tasche und legte etwas auf den Tisch.
»Das«, sagte er, »habe ich übrigens bei den Ställen gefunden. Es ist verdammt scharf. Weiß jemand, wem es gehört?«
Ich beugte mich vor. Es war das Messer mit dem dunkelblauen Griff. Joern musste es verloren haben. Oder er hatte es dagelassen, weil es ihm nicht gehörte.
»Es ist Flints Messer«, sagte ich. »Eines aus seiner Sammlung, die im Turm hängt.«
Wir hatten es umsonst geliehen, dachte ich. Joern hatte es nie benutzt. Wie sinnlos doch unsere Pläne gewesen waren! Wir hatten so viel erlebt, wir hatten geglaubt, wir könnten den Wald vor dem Kjerk retten, aber letztendlich hatten wir einen Mörder ins Haus geführt. Und nun gab es nicht einmal mehr die Linde, der ich all dies erzählen konnte.
»Du hättest sie nicht absägen dürfen«, murmelte ich.
»Sei nicht traurig, Lasse«, flüsterte Frentje und legte einen Arm um mich. »Deine Mutter würde sich sicher freuen, wenn sie wüsste, dass man nun eine Flasche Saft auf der Linde abstellen kann.«
Aber wen sollte ich nun um Rat fragen, wenn ich nicht mehr weiterwusste? Einen toten Baumstumpf? Eine blöde Saftflasche?
»Und was heißt überhaupt würde ?«, brummte ich. »Glaubst du, sie fliegt irgendwo als Engel herum? Ich bin zwölf und mit zwölf glaubt kein Mensch mehr an Engel! Sie ist
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