Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Jenseits der Finsterbach-Brücke

Jenseits der Finsterbach-Brücke

Titel: Jenseits der Finsterbach-Brücke Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antonia Michaelis
Vom Netzwerk:
nicht mehr da, sie ist tot, tot, mausetot, und nun ist auch die Linde tot und die Lämmer sind tot und alles, alles in diesem verdammten Wald ist tot!«
    Ich sprang auf und rannte aus der Küche, rannte hinaus auf den Hof und verschloss meine Ohren für Frentjes Rufe. Sollte sie rufen. Sollten sie alle rufen, bis sie schwarz wurden: schwarz wie die Schwarze Stadt, wo Joern jetzt war.
    Ich holte meinen Westwind aus dem Stall und ließ ihn in den Wald galoppieren. Dabei stellte ich mir vor, hintermir säße mein Freund Joern und wir wären zusammen unterwegs, um ein Abenteuer zu erleben: um das Rätsel des Weißen Ritters zu lösen, um den Norderhof vor dem Bösen zu retten, um eine neue Schlucht mit einem wunderbaren Namen zu entdecken oder neue Wasserfälle zu besiegen. Um endlich den Kjerk zu finden.
    Doch die Wirklichkeit war, dass ich den Kjerk ganz allein finden musste, und keiner würde mir helfen, weil die Erwachsenen nichts verstanden und Almut auch nicht.
    Ich galoppierte ohne Ziel durch den Wald, vorbei an jungen Bäumen und Ästen, geknickt vom Sturm. Es sah scheußlich aus, böse und gemein. Hatte es früher schon solche Stürme gegeben in unserem Wald? Oder war auch der Sturm mit dem Kjerk in den Wald gekommen?
    Ich merkte erst, wohin ich geritten war, als Westwind stehen blieb und fragend schnaubte. Vor uns fiel der Waldboden steil ab. Neben uns hatte der Sturm die Asche einer erkalteten Feuerstelle verteilt. Ich glitt von Westwinds Rücken und streichelte seinen samtigen braunen Hals.
    »Ja, hier waren wir erst vor Kurzem«, flüsterte ich in sein Ohr. »Hier hat uns der Weiße Ritter den zweiten Brief gegeben. Erinnerst du dich?«
    Wir betrachteten gemeinsam den Fluss, der schäumend und gurgelnd unter uns vorbeirauschte. Ein wenig flussabwärts konnte man den Wasserfall sehen, vor dem uns der Weiße Ritter gerettet hatte. Ich suchte das Wasser mit den Augen nach dem Volleyballnetz ab, doch es war in der Gischt nicht zu entdecken. Auch das weiße Band des Ritters warverschwunden. Dann sah ich, dass dort, wo das Netz im Gebüsch befestigt gewesen war, nur noch Fetzen hingen. Hatte der Sturm es zerrissen?
    »Nein, mein Westwind«, flüsterte ich und er zuckte aufmerksam mit den Ohren. »Jemand hat es zerschnitten. Mit einem sehr scharfen Messer.«
    In meinem Kopf wirbelten die Gedanken durcheinander. Doktor Bartens’ Worte, Johanns Worte, Frentjes Worte, Joerns Worte – es war wie ein Puzzlespiel, bei dem man nicht wusste, wie das Bild am Ende aussehen würde. Ich brauchte einen Ort, um die Teile in Ruhe zu ordnen. Und so kletterte ich wieder auf Westwinds Rücken und ließ mich von ihm flussaufwärts tragen zu meiner liebsten Lichtung, auf der keine Linde mehr stand.
    Das hohe Gras wisperte uns entgegen, als wir über die Wiese gingen. Ein Kaninchen floh vor unseren Schritten und die Bäume neigten ihre grünen Kronen, um uns zu grüßen. In der Mitte der Lichtung jedoch stand einsam der kleine Baumstumpf, der gerade groß genug war, um eine Saftflasche darauf abzustellen.
    »Bist du da?«, flüsterte ich. »Bist du noch da, obwohl es die Linde nicht mehr gibt?«
    Ich lauschte, als würde ich tatsächlich eine Antwort von meiner Mutter erwarten, aber natürlich bekam ich keine.
    »Man muss vergessen«, sagte ich laut. Und: »Wen man wirklich mag, den darf man nicht einsperren.« Und dann erinnerte ich mich an Almuts Worte und ich schrie den toten Baumstamm an: »Statt hier ihre alten Sachen rumliegenzu lassen, sollte meine Mutter mal lieber selbst auftauchen, um mir zu helfen!«
    Ja, zum ersten Mal war ich wütend auf meine dumme tote Mutter. Ich trat gegen den Stamm, bis meine Füße wehtaten, und schrie ihr alles entgegen, was mir einfiel. Danach ging ich zum Fluss, um meine Hände in sein kaltes Wasser zu tauchen. Vielleicht kühlte das die Wut ab.
    Doch als ich ins Wasser sah, vergaß ich die Wut, denn zwischen den Ästen der Trauerweiden hing etwas, das dort nicht hingehörte. Sie hatten es mit ihren Armen ergriffen und es nicht vorbeigelassen. Hätten an diesem Ufer keine Weiden gestanden, dann wäre das, was dort im Fluss lag, wohl die Stromschnellen entlanggeschwommen und den Wasserfall hinuntergespült worden. Und schließlich hätte der Fluss es aus dem Norderwald hinausgetragen, weit, weit fort.
    Zuerst erschrak ich. Das verhedderte Etwas war bedeckt mit nachtblauen Federn. Mein Herz schlug rascher, ich duckte mich ins Gras und wagte kaum zu atmen. Doch der Kjerk im Fluss bewegte sich

Weitere Kostenlose Bücher