Jenseits der Finsterbach-Brücke
Ritter, der Kjerk ist nicht der Kjerk. Und meine Mutter ist nicht meine Mutter. Vielleicht bin ich gar nicht ich. Vielleicht ist jemand ganz anderer Lasse Windström. Vielleicht gibt es überhaupt keinen Lasse Windström. Aber wer bin ich dann?«
Onnars Lächeln
A ls Joern in seiner Straße ankam, schlugen die Uhren der Schwarzen Stadt zwölf. Als wollten sie sagen: Es ist höchste Zeit, dass du zurückkehrst.
Es kam ihm vor, als wäre er hundert Jahre fort gewesen, und doch waren es nicht mehr gewesen als ein paar Tage. Nie waren die rußigen Straßen enger gewesen und die Häuserwände höher, nie war ihm der Himmel weiter entfernt vorgekommen. In der Ferne hörte er die Sirenen, die er so gut kannte, und seine Lippen murmelten ganz von selbst: Lass es nicht Onnar sein, lass es nicht Mama sein. Dann hielt er sich die Ohren zu, um die Sirenen nicht mehr hören zu müssen.
Alles in ihm sträubte sich dagegen, in die richtige Straße einzubiegen. Den richtigen Klingelknopf zu drücken. Alles in ihm wollte umkehren, den ganzen Weg zurückgehen. Fliehen.
»Ich bin ein verdammter Feigling«, sagte Joern zu Flop und drückte den Klingelknopf.
»Ja?«, fragte Mama durch die Sprechanlage. »Wer ist da?«
Joern schluckte. »Ich bin es«, sagte er. »Ich bin es, Joern.«
Es war eine Weile still am anderen Ende der Leitung. »Joern«, sagte Mama dann. Sie drückte den Summer und Joern rannte alle vier Stockwerke hinauf, noch schneller als Flop.
Mama stand oben in der offenen Wohnungstür. Sie umarmte ihn lange. Sie roch nach Eintopf und Wäsche und Putzmittel und billiger Seife. »Er ist wieder da!«, rief sie nach hinten in die Wohnung und kurz darauf war Joern umringt von den vier D. Flop konnte sich nicht entscheiden, an wem er zuerst hochspringen sollte, er jaulte vor Aufregung und drehte sich im Kreis und Joern erhielt eine Menge freundlicher Knüffe.
»Du hast den Brief bekommen«, sagte Dario.
»Gut, dass du wieder hier bist«, sagte Dirk.
»Ich habe gleich gesagt, er kommt zurück«, sagte Dennis.
»Wir sind nämlich eine Familie«, sagte Damian. »Vergiss das nie wieder.«
»Nein«, sagte Joern. »Das vergesse ich nie wieder.«
Und dann kochte Mama Kaffee und sie setzten sich um den zu kleinen Küchentisch und erzählten alle zugleich. Der Streik war vorüber. Niemand wusste, wann Onnar wieder aus dem Gefängnis käme. Die Arbeiter hatten aufgegeben. An diesem Morgen waren sie alle wieder in die Stollen hinabgestiegen und alle Frauen waren wieder in der Fabrik erschienen.
»Aber Mama haben sie nach Hause geschickt«, meinte Damian bitter. »Sie haben gesagt, sie bräuchten sie nicht mehr.«
Mama nickte. »Es ist wegen Onnar. Sie brauchen keine Frauen, deren Söhne stehlen. Ich kann das schon verstehen.«
»Verstehen!«, schnaubte Damian und ließ seine Faust auf die Tischplatte niedersausen, dass der Kaffee aus allen Tassen schwappte. Joern zuckte zusammen. Kaum war er zurück, gab es schon wieder Streit und Geschrei. »Versuch doch nicht immer, alles und jeden zu verstehen! Onnar hat nur genommen, was ihm zustand. Was uns zustand! So ist es doch!«
»Eines Tages geht es den Chefs dort an den Kragen!«, rief Dirk. »Eines Tages kriegen sie, was sie verdienen! Vor allem der Große, der im Geld schwimmt, das wir so hart erarbeiten. Wenn er sich nur mal blicken ließe!«
»Wir finden ihn schon«, sagte Dario.
»Und dann«, sagte Dirk und fuhr sich mit der Hand über den Hals. »Eines Tages, wenn er nichts ahnt …«
»Seid still!«, rief Mama und stand auf, um den verschütteten Kaffee aufzuwischen. »Seid alle still! Ich will solche Dinge nicht hören in dieser Wohnung. Ihr kennt den Großen nicht mal. Ihr wisst nichts über ihn.«
»Wir wissen genug«, sagte Damian, kippte den Rest seines Kaffees hinunter und verließ die Küche schnaubend wie ein wütender Stier.
»Wir lassen nicht zu, dass sie dich einfach rausschmeißen!«, rief Dario. »Wir lassen nicht zu, dass sie unserer Mutter wehtun!« Er ging ebenfalls und Dirk und Dennis folgten.
»Mama«, sagte Joern und nahm ihre Hand. Es war eine sehr kalte, blasse Hand. Man sah die blauen Adern darauf, als wäre die Haut aus Glas, zerbrechlich, verletzlich.
»Du hast gesagt, sie wissen nichts über den Großen. Weißt du denn etwas?«
Sie wandte ihm ihr Gesicht zu und lächelte traurig. »Nein«, sagte sie. »Keiner kennt ihn. Womöglich kennt er sich nicht einmal selbst.« Dann machte sie eine Handbewegung, als wollte sie das Thema
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