Jenseits der Finsterbach-Brücke
nicht. Nicht einen einzigen Zentimeter. Er lag ganz still. Nur die Strömung schaukelte seinen großen Körper sachte hin und her.
»Er ist tot!«, flüsterte ich. »Westwind, er ist tot!«
Dann beugte ich mich langsam vor und griff in die blauen Federn. Noch immer rührte sich der Kjerk nicht. Ich zog an ihm, zog und zog. Er war ordentlich schwer, denn sein Gefieder hatte sich voll Wasser gesogen. Ich dachte, allein könnte ich es nie schaffen, ihn an Land zu ziehen, aber schließlich gelang es mir, Zentimeter für Zentimeter. Westwind beäugtemich die ganze Zeit über misstrauisch und tänzelte nervös auf der Stelle. »Er ist tot«, sagte ich noch einmal lauter. Und dann stellte ich mich mitten auf die Lichtung, neben den Stamm der Linde, legte die Hände an den Mund und schrie es hinaus in den Wald, damit alle Lebewesen darin es hören konnten: »Der Kjerk ist tot!«
Es war die froheste frohe Botschaft, die ich mir denken konnte. Ich musste es Flint sagen! Almut! Johann! Überhaupt allen!
Ich kniete mich vor den großen toten Körper und betrachtete ihn genauer. Und plötzlich kam er mir seltsam vor. Seltsam formlos. Seltsam flach. Ich drehte seinen Kopf zu mir und sah, dass der tote Körper keine Augen mehr hatte. Dort, wo Augen hätten sein sollen, waren nur Löcher. Ich schüttelte mich. Hatte jemand seine Augen herausgeschnitten? Wer?
Ich hob die Flügel an, die wir niemals hatten fliegen sehen. Sie waren steif und ließen sich nicht biegen. Schließlich drehte ich den ganzen Federhaufen um und da entdeckte ich, dass eine Wunde in dem Körper klaffte: ein langer, gerader Schnitt. Aber die Wunde war keine Wunde. An ihren Rändern gab es kein Blut, kein Fleisch. Stattdessen waren dort Ösen in die Haut gestanzt, die einst ein Band zum Zuziehen geführt hatten. Und die Haut selbst war keine Haut. Es war federnbesetzter Stoff.
Verwirrt griff ich in den Bauch des Kjerks und griff ins Leere. Er war hohl innen. Der ganze mächtige Körper bestand aus nichts als einer Hülle.
Nein, der Kjerk war nicht tot.
Er hatte nie gelebt.
Flint hatte recht gehabt: Es gab keine Kjerks. Er hatte sie erfunden, genau wie den Weißen Ritter. Jemand hatte in der Verkleidung des Kjerks gesteckt. Vielleicht derselbe, der für uns den Weißen Ritter gespielt hatte. Das Ganze war eine gigantische Theateraufführung gewesen und wir ihr Publikum. Ein durch und durch dummes Publikum. Kein Tier hatte die Lämmer gerissen, sondern ein Mensch. Ein Mensch hatte Westwind verletzt und auch Tök. Mit dem gleichen scharfen Messer.
Vielleicht war es am Ende gar das Messer mit dem nachtblauen Griff gewesen. Ob Joern es verloren hatte und jemand anders hatte es gefunden? Oder war Joern ein Teil des Theaterstücks gewesen, hergeschickt, um mich zu täuschen? Und wer war noch in diese wahnsinnige Geschichte verstrickt?
Wie stand es zum Beispiel um Johann, der beinahe seinen eigenen Hund erschossen hätte? War Johann der Kjerk gewesen?
Mir wurde schwindelig. Ich kniete mich vor den toten Stamm der Linde ins Gras und legte meine Hand auf die Schnittstelle. »Sag mir die Wahrheit!«, wisperte ich. »Sag mir alles! Ich muss es wissen!«
Und da sprach die Linde zu mir. Zum ersten und einzigen Mal sprach sie zu mir. Nicht mit Worten. Mit ihrem toten Holz. Sie zeigte mir etwas, das sie mir nie hätte zeigen können, wäre sie noch am Leben gewesen. Als ich dieHand von der glatten Schnittstelle nahm, sah ich die Jahresringe des jungen Baumes. Alle hatten mir immer wieder erzählt, wie Flint diese Linde als Keimling in die Erde gesteckt hatte. Es gab sogar ein altes schwarz-weißes Foto davon, in irgendeinem Album: Flint im schwarzen Anzug, den Keimling behutsam zwischen den Fingern, als wäre es meine Mutter selbst, die er in den Armen hielt. Ich hatte das Bild nie länger ansehen wollen, es war so unendlich traurig. Vor zwölf Jahren war das Foto entstanden. Vor zwölf Jahren war ich geboren worden. Also musste auch die Linde zwölf Ringe haben. Doch etwas stimmte nicht. Man sah auf einen Blick, dass diese Linde mehr Ringe besaß als zwölf. Ich begann zu zählen und kam auf zweiundzwanzig .
»Westwind«, flüsterte ich. »Das … das ist unmöglich!«
Ich war zwölf Jahre alt, aber meine Mutter lag seit zweiundzwanzig Jahren hier unter der Erde.
Und auf einmal war ich mir sicher, dass alle auf dem Norderhof es wussten. Alle außer mir.
»Niemand ist der, der er ist«, sagte ich leise zu meinem Pferd. »Der Weiße Ritter ist nicht der Weiße
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