Jenseits Der Unschuld
atemlos. Hier lebte Jake? In diesem Palast, zweimal so groß wie die Ralston-Villa? Wie hatte er das bloß geschafft? Wie konnte er sich dieses Schloss leisten? Als sie ihn kennenlernte, war er nichts als ein armer irischer Einwanderer!
Zorn kochte in ihr hoch. Sie war seine Ehefrau! Sie sollte in diesem Palast mit ihm wohnen! Sie aber hatte die ersten fünf Jahre ihrer Ehe in einer schäbigen Bruchbude verbracht, hatte billige Baumwollkleider getragen, konnte sich nicht einmal ein Dienstmädchen leisten, musste das Kind allein versorgen, kochen, putzen und waschen. Sie hatte das Leben einer Arbeiterfrau geführt. Wie beschämend und ungerecht!
Suzanne hatte Jake aufgesucht, weil sie ihn liebte, doch beim Anblick dieses prunkvollen Hauses war rasende Wut in ihr hochgestiegen. Ihr war das Leben an seiner Seite verwehrt. Das schmiedeeiserne Tor war mit einer Kette verriegelt. Irgendwann war der Wächter aus dem Pförtnerhaus gekommen und hatte ihr gesagt, Mr. Ryan sei verreist; nein, er wisse nicht, wann er zurückkehren würde. Erst nach langem Drängen hatte er Suzanne endlich die Adresse seines Anwalts genannt, an den er die Post weiterleitete.
Am nächsten Tag hatte Suzanne den Anwalt aufgesucht. Wiederum vergeblich. Er habe keine Befugnis, über Mr.
Ryans Aufenthaltsort Auskunft zu geben. Schließlich hatte der hochnäsige Kerl sich bereit erklärt, ein Schreiben an ihn weiterzuleiten.
Suzanne hatte einen zehn Seiten langen Brief verfasst, in dem sie Jake ihre unveränderte Liebe gestand, aber auch ihren Zorn, von ihm betrogen und hinters Licht geführt worden zu sein, sowie ihren sehnlichen Wunsch, zu ihm zurückzukehren. Sie hatte nie eine Antwort erhalten, obgleich der Anwalt ihr versichert hatte, sämtliche Post sei unverzüglich an Mr. Ryan weitergeleitet worden. Suzanne hatte einen zweiten Brief geschrieben, doch auch dieser war ohne Antwort geblieben.
Seither war Suzanne in regelmäßigen Abständen zu dem prachtvollen Anwesen an der West Side gefahren, in der Hoffnung, Jake irgendwann anzutreffen. Vergeblich. Der Privatdetektiv hatte schließlich in Erfahrung gebracht, dass Mr. Ryan noch einen Wohnsitz in London habe, einen weiteren in Belfast und ein Landgut in Irland. Doch es gelang ihm nie herauszufinden, in welchem seiner Wohnsitze er sich gerade aufhielt. Gezwungenermaßen hatte Suzanne ihre Bemühungen schließlich aufgegeben.
Nun fuhr Billings die Kutsche der Ralstons wieder einmal an den hohen verriegelten Toren vor. Suzanne war den Tränen nahe. Ich verfluche dich, Jake! Ich brauche dich, wo bist du? Sofie braucht dich!
Sie schloss die Augen und sank in die Polster zurück. Wenn sie nur damals bei ihrem Wiedersehen nicht der Jähzorn gepackt hätte. Wenn sie nur die Vergangenheit ungeschehen machen könnte. Wenn sie nur wieder von vorn beginnen und alles anders machen könnte!
Suzannes Schläfen pochten schmerzhaft, als Billings ihr zu Hause aus der Kutsche half. Zu versunken in ihren bitteren Grübeleien, um ihm zu danken, eilte sie ins Haus. Sie hätte nicht wieder zu dem neugotischen, protzigen Haus zurückkehren dürfen. Aber sie konnte nicht anders. Sie verfluchte Jake, weil er sich vor ihr versteckte. Sie verfluchte ihn, weil er nie für sie da war, wenn sie ihn brauchte.
Sie dachte an Henry Martens Besuch, und ihre Kopfschmerzen verschlimmerten sich. Ihr Magen zog sich schmerzhaft zusammen. Sie musste ihren Anwalt kommen lassen. Sie war zwar sicher, dass sie die alleinige Verwalterin von Sofies Vermögen war, musste sich aber vergewissern, dass es keine Schlupflöcher in dem Vertrag gab. Vielleicht gab es eine Möglichkeit, Zusätze anzubringen. Sie hätte ihre Zustimmung nicht geben dürfen, dass diesem Henry Marten eine Abschrift des Vertrags ausgehändigt wurde. Nicht zu diesem Zeitpunkt. Aber Abschriften brauchten ihre Zeit, vielleicht war noch kein Schaden angerichtet.
Suzanne rechnete fest damit, dass sie über Sofies Vermögen verfügen und ihre Tochter zwingen konnte, nach Hause zu kommen, wenn sie nicht im Elend enden wollte. Sie musste nach Hause kommen und das Kind aufgeben.
Suzanne massierte ihre pochenden Schläfen, während sie die Halle durchquerte. Als sie an einer offenen Tür vorüberging, glaubte sie eine Bewegung im Salon wahrzunehmen. Einen Fuß auf der ersten Treppenstufe, verharrte sie. Hatte sich im Salon jemand bewegt? Sie drehte sich um, als Edward Delanza in der Halle erschien.
Ihr Herzschlag drohte auszusetzen. »Sie sind hier nicht
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