Jenseits Der Unschuld
überwältigt gewesen war.
Ein Schuldbewusstsein, das nie wirklich vergangen war. Denn als Softes gebrochener Fuß endlich heilte, stellte sich heraus, dass sie den Rest ihres Lebens ein Krüppel sein würde. Suzanne hatte sich daran die Schuld gegeben.
Um ihre Schuld wiedergutzumachen, hatte sie sich vorgenommen, Sofie den Rest ihres Lebens vor jedem weiteren Schmerz zu bewahren.
Suzanne war völlig in ihrer Rolle der beschützenden Mutter aufgegangen. Als habe sie ihr Leben lang darauf gewartet, die Mutter eines kranken Kindes zu sein. Als sie Jake endgültig verloren hatte, war all ihre Zuwendung auf ihre Tochter übergegangen. Auch wenn Sofie ein Krüppel war, so hatte sie wenigstens ihre Liebe zur Malerei und sie hatte ihre Mutter, die sie vor dem Gespött der Gesellschaft schützte und ihre exzentrische Neigung für die Kunst unterstützte.
Und plötzlich hatte Sofie sich geweigert, beschützt zu werden. Suzanne aber wusste, dass ihre Tochter die katastrophalen Folgen ihres Eigensinns nicht zu überschauen vermochte. Kein Mensch konnte begreifen, was es bedeutete, ein gesellschaftlicher Außenseiter zu sein, ehe er nicht selbst ausgestoßen und gesteinigt worden war.
Suzanne durfte nicht zulassen, dass Sofie ihr Leben mutwillig zerstörte. Sie war der Belastung nicht gewachsen, ein uneheliches Kind aufzuziehen. Suzanne wusste, was es bedeutete, Ansehen gegen Liebe zu tauschen. Liebe konnte diesen Schmerz nicht aufwiegen. Nichts konnte den Schmerz aufwiegen, von der Gesellschaft verachtet zu werden.
Sie hatte wenigstens Jake gehabt. Sofie hatte niemand. Und selbst wenn sie Edward Delanza heiraten könnte, würde ihr Kummer sich tausendfach vergrößern. Suzanne dachte an die unglückliche Zeit ihrer Ehe, an die bösen, gewaltsamen Auseinandersetzungen. Sie dachte an die Nächte, in denen Jake nicht nach Hause gekommen war.
Wenn er im Morgengrauen auftauchte, hatte er nach billigem Parfüm gestunken. Selbst jetzt, nach so vielen Jahren, erfüllte die Erinnerung sie mit glühendem Hass. Was die Erinnerung noch schlimmer machte, war die Tatsache, dass sie immer noch von Liebe durchdrungen war, die nie, nie sterben würde.
Suzanne wusste, dass Sofie keine andere Wahl blieb. Sie konnte kein Leben als ledige Mutter führen. Und sie konnte diesen Edward Delanza nicht heiraten, da er der gleiche Schurke war wie Jake O'Neil. Sofie musste das Kind weggeben. Mit der Zeit würden ihre Wunden heilen und der Schmerz erträglich werden. Es war die beste Lösung für alle Beteiligten - für Sofie, für das Kind und für Suzanne.
Suzanne ließ die Kutsche vorfahren und eilte nach oben, um sich zum Ausgehen umzuziehen. Sie betupfte ihre bleichen Wangen mit Rouge, dann setzte sie einen schwarzen Hut mit Halbschleier auf, um ihre geröteten Augen zu verbergen. Ihr Puls begann zu rasen.
Sie brauchte Jake jetzt, fürchtete jedoch, dass er wieder nicht in der Stadt war.
In ihren bodenlangen Nerzmantel gehüllt, bestieg Suzanne hastig die Kutsche und wies Billings an, zum Riverside Drive zu fahren. Dann lehnte sie sich seufzend in die Polster zurück und kuschelte sich in den Pelz.
Hoffentlich war Jake wieder in der Stadt! Er würde ihr helfen. Irgendwie würde er helfen. Jake war der einzige Mensch auf dieser Erde, der Berge versetzen konnte, und Sofie war zu einem Berg ungelöster Probleme geworden.
Suzanne sah die kahlen, herbstlichen Bäume nicht auf der Fahrt durch den Central Park. Sie hatte Magenschmerzen. Sie hatte Jake seit beinahe einem Jahr nicht gesehen, dabei hatte sie nichts unversucht gelassen.
Nach ihrer ersten nächtlichen Begegnung mit dem Totgeglaubten vor der Oper hatte sie umgehend einen Privatdetektiv engagiert, um herauszufinden, wo er wohnte. Nach wenigen Tagen hatte der Mann ihr mitgeteilt, Jake Ryans Adresse sei Riverside Drive 101. Suzanne hatte sich umgehend dorthin begeben.
Und sie war aus dem Staunen nicht herausgekommen. Das riesige Anwesen war von einem hohen Eisenzaun umgeben. Die mächtigen Tore wurden von einem Pförtnerhaus bewacht. Eichen und Tannen schirmten das Haus vor neugierigen Blicken ab. Nur durch die geschwungenen Eisenstäbe des Tores sah man am Ende weiter grüner Rasenflächen das prachtvolle Gebäude, das eher einem mittelalterlichen Schloss ähnelte als einer Stadtvilla. Das neugotische Gebäude wurde von hohen Türmen flankiert, der Rundbogeneingang hatte die Größe eines Kirchenportals, dazu gab es zinnen bewehrte Giebeldächer, Balkone und Säulengänge.
Suzanne war
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