Jenseits Der Unschuld
gestattet, die Farben nach Newport mitzubringen. Außerdem lohnte es nicht, ihren Malkasten übers Wochenende ins Sommerhaus zu schleppen. Im übrigen war sie mit dem festen Vorsatz nach Newport gekommen, sich den Gästen ihrer Mutter zu widmen und nicht in ihrem Zimmer zu malen. Aber nach all den Aufregungen konnte sie dem Drang nicht mehr widerstehen, der ihr den ganzen Tag in den Fingern gekribbelt hatte. Schlaf war das letzte, wonach ihr der Sinn stand.
Sie zeichnete mit größter Konzentration. Ihr Strich war sicher und kühn. Sie legte eine Skizze nach der anderen beiseite. Das Thema veränderte sich nicht, Porträtskizzen eines Mannes; nur die Posen waren verschieden. Skizzen von Edward Delanza.
Sie zeichnete Edward kniend, stehend, sitzend, schlendernd, sie zeichnete ihn mit ihrem hässlichen Schuh in der Hand. Sie zeichnete ihn bekleidet, in Hemdsärmeln, um seine kraftvollen Muskeln anzudeuten, die sie in seiner Umarmung gespürt hatte. Sie wünschte, ihn unbekleidet gesehen zu haben - dann hätte sie ihn nackt gezeichnet.
Sie skizzierte seinen Körper in sparsamen, kräftigen, einfachen Strichen. Nur sein Gesicht arbeitete sie in allen Studien sorgfältig aus. Und in allen Porträts war der Gesichtsausdruck unverändert. So, wie sie ihn beim Abschied gesehen hatte, zärtlich, besorgt und dennoch mit einer sündigen Verheißung im Blick.
Kapitel 4
Suzanne ging rastlos auf und ab. Sie hatte eine schlaflose Nacht hinter sich, und als Benjamin sie gefragt hatte, was sie bekümmere, konnte sie ihm keine Erklärung geben.
Sie blieb vor dem venezianischen Spiegel über dem geschwungenen Louisquatorze Tisch stehen. Ihr dunkles, schulterlanges Haar unterstrich ihren makellosen Elfenbeinteint und ihre klassisch geschnittenen Gesichtszüge. Das schlichte Morgenkleid aus pfirsichfarbener, in sich gemusterter Seide war tief dekolletiert und hatte ein schmal geschnittenes Oberteil, entgegen der diesjährigen Mode, die hochgeschlossene, weit fallende Formen bevorzugte.
Suzanne war stolz auf ihre schlanke Figur und brachte sie gern zur Geltung. Nun strich sie den bis zu den Hüften enganliegenden Rock glatt, der in eine weite Trompetenform ausschwang. Sie sah jung und strahlend schön aus.
Nur die winzigen Fältchen um die Augen störten ein wenig.
Suzanne bedauerte ihr Verhalten von gestern abend zutiefst. Doch sie hatte Sofie ermahnt, sich von Edward Delanza fernzuhalten, doch Sofie hatte nicht auf sie gehört. Wenn ihr nur die Hand nicht ausgerutscht wäre! Aber vielleicht hatte das störrische
Kind endlich begriffen.
Der Kerl erinnerte sie fatal und verwirrend an Jake.
Suzanne holte tief Luft. Jake war vor elf Jahren gestorben, und sie empfand immer noch eine grässliche Leere, wenn sie an ihn dachte - was nur allzu oft geschah. Ja, sie sehnte sich nach dem elenden Bastard. Sie würde ihn nie vergessen - und sie hasste ihn. Er hätte sie beinahe zugrunde gerichtet.
Suzanne konnte Jake nicht verzeihen. Nicht, dass sie durch ihn aus der Gesellschaft ausgeschlossen worden war, nicht, dass er sie um Besitz und Vermögen gebracht hatte sie verzieh ihm die Frauen nicht, und sie verzieh ihm den Entschluss nicht, getrennt von ihr zu leben, nachdem sie ihm die Scheidung verweigert hatte. Und als Jake gezwungen war, das Land zu verlassen, war sie als Ehefrau eines Mörders, eines Verräters gebrandmarkt worden.
Hätte Benjamin Ralston sie nach Jakes Tod nicht geheiratet und ihr auf diese Weise ihren guten Ruf und ihren Platz in der Gesellschaft wiedergegeben, würde sie bis heute Jakes Brandmale tragen.
Am wenigsten konnte sie Hake verzeihen, dass er sein gesamtes Vermögen - eine Million Dollar in Grundstücken und Bargeld - seiner Tochter vererbt hatte. Das war der härteste Schlag für sie. Das Vermögen sollte Sofie bei ihrer Verheiratung ausgehändigt werden. Falls sie nicht heiratete, erhielt sie ab ihrem einundzwanzigsten Geburtstag vierteljährliche Ratenzahlungen, das restliche Vermögen war an ihrem fünfundzwanzigsten Geburtstag fällig. Nach allem, was Suzanne gelitten hatte und aufgeben musste, hatte der Schuft ihr keinen roten Heller hinterlassen.
Das war Jakes Rache, die er ihr angedroht hatte, als sie sich das letztemal gesehen hatten. Damals hatte er bereits hinter Gittern gesessen. Niemand hatte damit gerechnet, dass er zwei Jahre später bereits tot sein würde. Im Übrigen hatte Suzanne die Drohung nicht ernst genommen, was hätte er schon aus dem Gefängnis gegen sie unternehmen können?
Weitere Kostenlose Bücher