Jenseits Der Unschuld
Blick suchte den seinen. »Meine Arbeiten gefallen Ihnen nicht.« Ihre Stimme klang ein wenig heiser.
Edward begriff, dass sie keine Ahnung von ihrem Talent hatte. Während er nach passenden Worten suchte, glitt sein Blick erneut über die Leinwände. Plötzlich entdeckte er ein kleineres Format, das er bisher nicht beachtet hatte. Das Porträt eines jungen Mannes, in detailgenauer Manier ausgeführt, geradezu fotografisch genau. Der dunkelblonde Mann saß auf einem Stuhl, den Blick direkt auf den Betrachter gerichtet. Edward wurde unruhig.
Diesen Mann kannte er. »Sofie - wer ist das?«
»Mein Vater, so wie ich mich an ihn erinnere, bevor er vor vielen Jahren starb.«
Edward trat näher und betrachtete den gutaussehenden Mann mit den goldbraunen Augen aufmerksam. Plötzlich machte sein Herz einen Satz. Gütiger Himmel! Er hätte schwören können, dass dieser Mann derselbe war, der ihn gestern im Savoy angerempelt hatte, als er seine Post abholte - haargenau derselbe Mann, nur etwa zehn Jahre jünger.
Ein absurder Gedanke. »Sofie, wie ist Ihr Vater ums Leben gekommen?«
Sie zuckte zusammen. »Er starb beim Brand eines Lagerhauses.«
»Wurde er identifiziert?«
Sie sah ihn unverwandt an. »Meinen Sie seine Leiche?«
»Tut mir leid«, sagte er sanft. »Ja.«
Sie nickte. »Er war ... bis zur Unkenntlichkeit verbrannt, aber ... er war aus dem Gefängnis ausgebrochen und trug ein Blechschild mit seinem Namen um den Hals. Es ... war noch leserlich. «
»Ich verstehe.« Ein anderer Gedanke schoss Edward durch den Kopf. »Ist er allein in den Flammen umgekommen?
«
Sofie schüttelte den Kopf. »Ich vermute, Sie haben die Gerüchte gehört. Schenken Sie ihnen keinen Glauben, Edward. Mein Vater war ein wunderbarer Mensch. Seine Mutter und seine Schwester kamen ums Leben, als die Engländer ihr Dorf in Irland niedergebrannt hatten. Damals war er ein halbwüchsiger Junge und hatte nur Vergeltung im Sinn. Er steckte ein englisches Militärlager in Brand. Dabei starb ein Soldat, und mein Vater musste aus seiner Heimat fliehen.« Sofies Lippen wurden schmal, ihre Nase rötete sich. »Er floh nach New York, lernte meine Mutter kennen und heiratete sie.« Sofie verstummte und nestelte an den Falten ihres Rockes.
Da sie keine Anstalten machte, die Geschichte zu Ende zu erzählen, hakte Edward behutsam nach. »Was ist dann geschehen?«
»In New York arbeitete er sich vom einfachen Arbeiter zum erfolgreichen Bauunternehmer hoch. Suzanne kam aus einer sehr wohlhabenden Familie. Mein Vater baute ein schönes Haus für sie - für uns - am Riverside Drive. Meine Eltern bewegten sich in den vornehmen Kreisen New Yorks. Und dann kam die Katastrophe. Bei einer Abendgesellschaft lernten sie einen Engländer kennen, einen hohen Offizier im Ruhestand, der an jenem unglückseligen Tag das englische Militärlager in Irland besucht hatte. Dieser Mann erkannte meinen Vater. Lord Carrington erinnerte sich sogar an seinen Namen. Dummerweise hatte mein Vater seinen Namen nicht geändert, da er niemals damit gerechnet hatte, däß seine Vergangenheit ihn in New York einholen würde.«
»Welch ein tragischer Zufall«, sagte Edward mitfühlend. »Ihr Vater hatte doch sicher sein Aussehen verändert, schließlich war er älter geworden.«
»Er war erst vierundzwanzig und ich noch nicht sechs. Als er meine Mutter kennenlernte und kurz darauf heiratete, war er beinahe noch ein Halbwüchsiger.«
»Es tut mir sehr leid, Sofie.« Edward ergriff ihre Hand.
Sie ließ es geschehen, entzog sie ihm erst nach einigen Sekunden. » Ich war zwar noch ein kleines Kind, aber ich werde den Tag nie vergessen, an dem er sich verabschiedete.« Sofie zwang sich zu einem Lächeln. »Ich war völlig verzweifelt. Ich kann mich nicht an seine Worte erinnern, aber ich bin sicher, er hatte mir nicht gesagt, dass es ein endgültiger Abschied war. Irgendwie wusste ich es dennoch. Kinder haben einen sechsten Sinn. «
Edward nickte.
»Nach kaum einem Jahr wurde er inhaftiert und kurz darauf nach Großbritannien ausgeliefert und zu lebenslanger Haft verurteilt. Zwei Jahre später gelang ihm die Flucht mit einem Mithäftling. Kurz darauf kam er in den Flammen um.«
»Es tut mir unendlich leid«, wiederholte Edward. »Was ist aus dem anderen Häftling geworden?«
»Er wurde nie gefunden.«
Und plötzlich wusste Edward Bescheid. Er drehte sich um und starrte Jake O'Neils Porträt an. Du Hurensohn, dachte er, hin- und hergerissen zwischen Bewunderung und Zorn. Du
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