Jenseits der Zeit
Gras. Hatte es einmal einen anderen Ort gegeben? fragte sich Thornhill.
Nein. Das Tal war schon immer da gewesen, und er hatte allein und in Frieden in ihm gelebt, bis der letzte trügerische Moment der Ruhe von dieser unerwünschten Invasion der Fremden zerstört worden war.
»Es dauert immer einige Stunden, bis der Effekt nachläßt«, sagte das Mädchen. »Dann werden Sie sich erinnern … genauso, wie wir uns erinnern. Überlegen Sie. Sie kommen von der Erde, nicht wahr?«
»Erde?« wiederholte Thornhill benommen.
»Grüne Hügel, große Städte, Ozeane, Raumschiffe. Erde. Nichts?«
»Achten Sie auf die tiefe Bräunung der Haut«, warf La Floquet ein. »Er stammt von der Erde, hat aber schon längere Zeit dort nicht mehr gelebt. Waren Sie auf Vengamon?«
»Vengamon«, wiederholte Thornhill, diesmal aber ohne fragenden Unterton. Die seltsamen Silben schienen eine Bedeutung für ihn zu haben: eine große gelbe Sonne, weite Ebenen, eine langsam wachsende Kolonistenstadt, ein blühender Erzhandel. »Ich kenne das Wort«, sagte er.
»War das die Welt, auf der Sie gelebt haben?« stieß das Mädchen nach. »Vengamon?«
»Ich glaube …«, begann Thornhill zögernd. Plötzlich wurden seine Knie weich. Ein Leben, das ihm Gewißheit gewesen war, brach plötzlich um ihn herum zusammen, schälte sich wie eine Haut von ihm ab und zerstob.
Dieses Leben hatte es nie gegeben.
»Ich habe auf Vengamon gelebt«, sagte er.
»Gut!« rief La Floquet. »Eine erste Tatsache ist bewiesen. Jetzt denken Sie darüber nach, wo Sie sich in dem Augenblick befanden, bevor Sie nach hier kamen. Vielleicht in einem Raumschiff? Unterwegs zwischen den Welten? Denken Sie nach, Thornhill.«
Er dachte nach, zermarterte sein Gehirn, und nach und nach löschte er alle Erinnerungen an das Leben im Tal aus, ging immer weiter zurück, bis …
»Ich war Passagier auf dem Linienschiff Royal Mother Helene und unterwegs nach Vengamon. Wir kamen von der Nachbarwelt Jurinalle. Ich … ich hatte Urlaub gehabt, war auf dem Weg zurück zu meiner … meiner Plantage? Nein, nicht zu einer Plantage. Einer Mine. Mir gehören Minen auf Vengamon. Ja, das ist es – ich besitze dort Bergwerke.« Das Licht der beiden Sonnen schien plötzlich erdrückend warm hernieder, Thornhill wurde schwindlig. »Jetzt erinnere ich mich: Es war eine langweilige Reise, ich hatte nichts zu tun und döste seit einigen Minuten vor mich hin. Dann erinnere ich mich, daß ich plötzlich das Gefühl hatte, außerhalb des Schiffes zu sein, und dann war da plötzlich nichts mehr. Als ich wieder denken konnte, war ich hier im Tal.«
»Der Standardvorgang«, sagte La Floquet. Er deutete auf die anderen Gestalten unten am Fluß. »Wir sind mit Ihnen jetzt insgesamt acht. Ich kam gestern hier an – obwohl es hier keine Nacht gibt und ich das nur aufgrund der verflossenen Stunden so bezeichne. Nach mir kam das Mädchen, dann drei andere. Sie sind heute schon der dritte.«
Thornhill blinzelte. »Wir werden einfach irgendwo aus dem Nichts herausgerissen und hierhergebracht? Wie ist das möglich?«
La Floquet zuckte die Schultern. »Die Frage werden Sie noch mehr als einmal stellen, bevor Sie das Tal wieder verlassen. Kommen Sie. Kehren wir zurück zu den anderen.«
Der kleine Mann wandte sich mit einer gebieterischen Geste um und lenkte seine Schritte den Pfad hinunter; das Mädchen folgte ihm, Thornhill schloß sich ihr an. Er erkannte, daß er auf einem Hügelkamm über dem Fluß gestanden hatte, einem Ausläufer eines der beiden großen Bergmassive, die die Grenzen des Tales bildeten.
Die Luft war warm, nur von einer leichten Brise bewegt. Thornhill fühlte sich jünger als siebenunddreißig Jahre, einfach lebendiger, aufnahmefähiger. Ihm fiel der Duft der goldenen Blüten am Flußufer auf, er sah, wie sich in der Gischt des Flußwassers das Licht der beiden Sonnen funkelnd brach.
Plötzlich dachte er daran, auf seine Uhr zu schauen. Die Zeiger standen auf vierzehn Uhr dreiundzwanzig. Die Datumsanzeige stand auf dem siebten Juli 2671. Es war also immer noch derselbe Tag. Am siebten Juli 2671 hatte er Jurinalle in Richtung Vengamon verlassen, um elf Uhr 40 hatte er zu Mittag gegessen. Wahrscheinlich war er dann so gegen zwölf Uhr eingedöst – und wenn mit seiner Uhr alles in Ordnung war, waren seitdem erst zwei Stunden vergangen. Zwei Stunden. Und doch: seine Erinnerungen, die jetzt zwar schwächer wurden, hatten ihm eingeredet, daß er sein ganzes Leben in diesem Tal
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