Jenseits des Bösen
wußte, das war sein Astralkörper, der auf einer anderen Daseinsebene noch unversehrt war. Er sagte, daß er sich mit der verlorenen Hand immer noch regelmäßig einen abwichste, und bot sich an, das vorzuführen. Es stimmte.
Später sagte der Mann: »Du kannst im Dunkeln sehen, nicht wahr?«
Darüber hatte Jaffe noch gar nicht nachgedacht, aber jetzt, wo seine Aufmerksamkeit darauf gelenkt worden war, schien es tatsächlich so zu sein, als könnte er es.
»Wie hast du das gelernt?«
»Gar nicht.«
»Vielleicht Astralaugen.«
»Vielleicht.«
»Soll ich dir noch einmal den Schwanz lutschen?«
»Nein.«
Er sammelte Erfahrungen, stets nur eine, wenn er auf der einen Seite ins Leben von Menschen trat und es auf der anderen wieder verließ, so daß sie besessen oder weinend oder tot 26
zurückblieben. Er folgte jeder Laune, folgte seinem Instinkt, und das geheime Leben wurde ihm in dem Augenblick
offenbar, wenn er eine Stadt betrat.
Nichts deutete darauf hin, daß er von den Mächten des Gesetzes verfolgt wurde. Vielleicht war Homers Leichnam nicht in dem niedergebrannten Gebäude gefunden worden, und falls doch, hatte ihn die Polizei vielleicht nur als Opfer der Flammen betrachtet. Aus welchen Gründen auch immer,
niemand war hinter ihm her. Er ging, wohin er wollte, und er tat, was sein Herz begehrte, bis er ein Übermaß an Begierden befriedigt und Bedürfnisse gestillt hatte und es Zeit wurde, die Grenze zu überschreiten. Er mietete sich ein Zimmer in einem verlausten Motel in Los Alamos, New Mexico, schloß sich mit zwei Flaschen Wodka ein, zog sich aus, zog die Vorhänge vor und ließ seinen Verstand wandern. Er hatte seit achtundvierzig Stunden nichts mehr gegessen, nicht weil er kein Geld gehabt hätte, denn das hatte er, sondern weil ihm das unbeschwerte Gefühl im Kopf gefiel. Nach Nahrung hungernd und vom
Wodka aufgepeitscht, liefen seine Gedanken Amok,
verschlangen einander gegenseitig und schissen einander aus und waren wechselweise barbarisch und barock. In der
Dunkelheit kamen Küchenschaben aus ihren Löchern und
wuselten über seinem am Boden liegenden Körper. Er ließ sie kommen und gehen, goß sich Wodka über die Lenden, wenn sie dort zu emsig waren und er steif wurde, weil das eine Ablenkung war. Er wollte nur denken. Schweben und denken.
Er hatte alle körperlichen Empfindungen erlebt, die er erleben mußte; heiß und kalt, triebhaft und geschlechtslos; war Ficker und Gefickter gewesen. Nichts davon wollte er noch einmal; jedenfalls nicht als Randolph Jaffe. Es gab eine andere Art zu sein, einen anderen Ort, wo man empfinden konnte, wo Sex und Mord und Kummer und Gier und alles wieder
interessant sein mochten, aber erst dann, wenn er sein momentanes Dasein überwunden hatte; wenn er zum Künstler 27
geworden war und die Welt neu erschaffen hatte.
Kurz vor der Dämmerung, als selbst die Küchenschaben
träge wurden, spürte er die Einladung.
Er war von einer großen Ruhe erfüllt. Sein Herz schlug langsam und gleichmäßig. Seine Blase leerte sich aus eigenem Antrieb, wie die eines Babys. Ihm war weder zu kalt noch zu warm. Er war weder zu müde noch zu wach. Und an diesem Kreuzweg - der nicht der erste und nicht der letzte war - zog etwas tief in seinem Innersten und rief ihn.
Er stand sofort auf, zog sich an, nahm die verbleibende volle Flasche Wodka und ging hinaus. Der Ruf in seinem Inneren verstummte nicht. Er wurde weitergezogen, während sich die kalte Nacht hinforthob und die Sonne aufging. Er war barfuß gegangen. Seine Füße bluteten, aber sein Körper interessierte ihn nicht weiter, und er hielt die Schmerzen mit weiterem Wodka auf Distanz. Am Nachmittag, als er den letzten Rest getrunken hatte, war er mitten in einer Wüste und ging in die Richtung, in die er gerufen wurde, ohne richtig zu bemerken, wie er einen Fuß vor den anderen setzte. Er hatte keinen Gedanken mehr im Kopf, außer der ›Kunst‹ und wie sie zu erringen sei, und selbst diese Ambition kam und ging.
Wie schließlich die Wüste selbst. Irgendwann gegen Abend kam er an einen Ort, wo selbst die einfachsten Tatsachen - der Boden unter ihm, der dunkelnde Himmel über seinem Kopf - in Zweifel standen. Er war nicht einmal mehr sicher, ob er noch ging. Daß alles fehlte, das war angenehm, aber es dauerte nicht lange. Der Ruf mußte ihn weitergelockt haben, ohne daß er selbst den Sog bemerkte, denn die Nacht wurde plötzlich zum Tage, und er befand sich - wieder am Leben; wieder Randolph Ernest
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