Jenseits des Karussells: origin - Preisgekrönt und aufregend anders (German Edition)
gehen – als Künstler oder als Anwalt. Oder, wenn alle Stricke reißen und mein Talent für eine schöpferische Karriere nicht ausreicht, vielleicht als Anwalt für Künstler? Doch versuchen muss ich es. Ich muss es wissen.
Dein Dich liebender Sohn
Thorolf Maximilian Treynstern
Nun war es also geschehen, und sie fürchtete sich schon vor den Folgen. Ihr Sohn hatte Wien, eine vielversprechende Karriere und vor allem ein sicheres bürgerliches Leben als Jurist hinter sich gelassen, um Künstler zu werden. Als er sein Examen bestanden hatte, hatte sie ernsthaft gehofft, er hätte nun endlich den Gedanken, Maler zu werden, an den Nagel gehängt. Doch sie hatte sich geirrt. Mütterliches Wunschdenken.
Er war nach München gezogen, zum einen, weil die Metropole so etwas wie die Kunsthauptstadt war, und zum anderen, weil er sich schon wieder einmal eines Mädchens wegen in Schwierigkeiten gebracht hatte. Das war typisch für ihn, und in München würde es mit Sicherheit nicht aufhören. Bayern hatte gerade so schöne Töchter wie Österreich. Er sah schlichtweg zu gut aus, war zu beschlagen im Spiel der Liebe und genauso attraktiv und verführerisch wie sein Vater. Allerdings nicht so anstellig in der Kunst, seine Spuren zu verwischen. Affären mit Mädchen, Streitigkeiten mit Brüdern, Vätern und sogar Ehemännern hatten seinen Werdegang begleitet. Details wusste sie nicht, er erzählte ihr niemals welche. Vermutlich dachte er, seine alte Mutter wüsste nichts über Herzensdinge, Leidenschaft und Verlangen.
Da täuschte er sich, und das würde vermutlich ein Schlag für ihn sein.
Ihr Herz krampfte sich zusammen bei dem Gedanken, dass sie ihm nun reinen Wein einschenken musste darüber, dass entgegen dem, was man ihm gesagt hatte und was er nie bezweifelt hatte, er nicht des verblichenen Herrn Treynsterns Sohn war. Ihr Gatte hatte das nie geahnt, und natürlich war es nichts, was man einem Kind erzählen würde. Thorolf interpretierte gesellschaftliche Regeln mit einer nicht unerheblichen lockeren Aufgeschlossenheit, wenn es um seine eigenen Liebschaften und Eroberungen ging, doch Sophie Treynstern bezweifelte, dass ihm der Gedanke zusagen würde, linksseitig des Ehebetts durch seiner Mutter ehemaligen Liebhaber gezeugt worden zu sein, als sein offizieller Vater gerade einmal abwesend war.
Sophie hatte dieses Kind unbedingt haben wollen. Sie wollte es als Andenken an ein Leben von Liebe und Glück, das sie mit einem anderen Mann verbracht hatte, ehe sie geheiratet hatte und ein geschätztes Mitglied der Gesellschaft geworden war. Niemand wusste oder ahnte auch nur, was für ein Leben sie zuvor geführt hatte. Niemand hatte je irgendeinen Verdacht gehegt. Sie hatte gut achtgegeben, ihre Vergangenheit zu verbergen. Außerdem war sie Herrn Treynstern eine gute Frau gewesen, hatte ihre Pflicht getan mit Bedacht und mit liebender Sorgfalt. Wenn man von dieser einen Regelverletzung absah, war sie sogar treu gewesen. Sie hatte den wirklichen Vater ihres Sohnes nie mehr aufgesucht, hatte es vorgezogen, das wilde und schöne Kind nach dem Ableben ihres Gatten allein aufzuziehen.
Sie hatte wenig Hoffnung, dass es ihr gelingen würde, Thorolf zur Umkehr nach Wien in ein bürgerliches Leben zu bewegen. Versuchen musste sie es dennoch. Außerdem musste sie ihm endlich die Wahrheit sagen, obgleich allein der Gedanke daran sie schon ängstigte. Sie hatte seinem wirklichen Vater geschrieben und ihn um Hilfe und Unterstützung gebeten, doch man konnte nie genau wissen, wo er sich gerade aufhielt und wo oder wann ihn ein Brief erreichen würde. Er reiste viel, blieb nie lange an einem Ort.
Vielleicht würde er selbst mit dem Jungen reden wollen. Vielleicht war das auch von Mann zu Mann einfacher, weniger prekär als für eine liebende Mutter, die sich allzu sehr davor fürchtete, Liebe und Respekt ihres Sohnes einzubüßen.
Doch sie durfte es nicht mehr aufschieben. Zufälle geschahen allenthalben, und der dümmste war, dass er ausgerechnet mit Ian McMullen eine Unterkunft teilte. Sophie kannte den jungen Mann, hatte ihn eineinhalb Jahre zuvor bei einem lebensbedrohlichen Abenteuer kennengelernt, von dem sie Thorolf nie berichtet hatte. Sie erinnerte sich an den Jungen, hatte ihn als Gefäß für eine verlorene Feyon-Seele gesehen und später als wiederhergestellten richtigen Menschen. Er war aus diesem Abenteuer mit mehr Sinnen als den üblichen menschlichen fünf hervorgegangen. Er war gewiss nett, aber viel zu scharfsichtig.
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