Jenseits des Karussells: origin - Preisgekrönt und aufregend anders (German Edition)
Missverständnissen gehandelt hat. Beklagenswerte Fehlinterpretationen. Überhaupt ist der Herr, von dem die Rede ist, nicht wirklich ein Herr und die Dame auch nicht wirklich eine Dame.
So habe ich meine Reise nach Abschluss meiner Prüfungen dazu verwendet, mir eine neue Startposition für mich und meine Talente zu suchen. Letztere sind, das glaube ich fest, vor Gericht oder auch nur im Abhandeln von Erbschaftsangelegenheiten für reiche Langweiler wirklich falsch eingesetzt. Wir müssen alle sterben – irgendwann – aber doch bitte nicht vor Langeweile. Also, Schluss mit Paragraphen. Kein Papierkrieg mehr, und auch keine überschlauen „Herren“, denen das gute Aussehen ihrer offenherzigen Schwestern auf einmal recht wohlfeil scheint.
München hat sich zum Künstlerzentrum entwickelt. Ganz ausnehmend viele Künstler hat es hierher verschlagen, und es ist mir glücklicherweise gelungen, von der Akademie angenommen zu werden, um dort eine Ausbildung bei den größten und besten Künstlern dieses Landes zu erfahren. Piloty und Kaulbach und so weiter. Außerdem von Schwind, der übrigens nicht halb so lieb und verträumt ist, wie seine Bilder das andeuten mögen. Ich habe nun schon eine ganze Reihe von Malern kennengelernt, und ich kann Dir versichern, sie sind bei Weitem interessanter als Juristen.
Natürlich musste ich mich ein wenig an meinem ererbten Vermögen bedienen. Doch warum sollte mein Besitz schließlich nicht für etwas Sinnreiches ausgegeben werden? Ich habe mir ein Zimmer (und ein halbes Wohnzimmer) in einer sehr hübschen Wohnung im Obergeschoss eines der neuen, modernen Häuser gemietet. Es ist wirklich bequem und für meine bescheidenen Bedürfnisse absolut ausreichend. Das Wohnzimmer geht nach Süden hinaus und hat große Fenster – und somit gutes Licht. Sogar ein Wasserklosett gibt es im Treppenhaus, das wir mit den anderen Mietern teilen. Du siehst, wir haben es geradezu luxuriös.
Ich weiß, dass Du all diese Ausgaben kritisch beäugen wirst, doch eine halbe Wohnung ist nicht so teuer. Der junge Mann, mit dem ich die Bleibe teile, ist ein Mr. Ian McMullen aus Schottland, der auch in München studiert, jedoch zunächst ein wenig unzugänglich war, was die Art seiner Studien anging. Er lernt an einer Loge zu München. Ich habe immer gedacht, Logen hätten mit Freimaurerei zu tun. Dass man dort studieren kann, ist mir neu. Ich werde sicher noch mehr herausfinden, wenn wir erst einmal etwas länger unsere Bleibe geteilt haben. Übrigens hat er einmal eine Frau Treynstern kennengelernt, hat er gesagt. Kann es sein, dass Du ihn kennst?
Jedenfalls mag ich ihn, egal wie seltsam seine berufliche Ausrichtung sein mag. Ich hoffe, sein Studium schockiert Dich nicht allzu sehr, was immer es auch genau sein mag. Du kennst mich. Ich habe einen guten Instinkt, was Menschen angeht, und er scheint mir nett und interessant zu sein. Wenn er kein Künstler ist, hat das außerdem den Vorteil, dass wir uns nicht um das beste Licht im Wohnzimmer streiten müssen.
Liebe Mutter, ich verstehe, dass das ein Schlag für Dich sein muss. Die Künstlerszene, die Bohème – all das muss einer Dame Deines Alters und Deines Standes, einer achtbaren, weithin respektierten Richterswitwe, ungewöhnlich und beunruhigend vorkommen. Doch das Leben kann eben auch anders sein, obgleich ich Dir – die Du immer so korrekt und penibel in allem bist – bei allem Bemühen wohl nicht plausibel machen kann, woher mein Drang, anders zu sein, kommt. Warum ich Neues ausprobieren und Grenzen erforschen will und muss. Gewiss würdest Du es kaum verstehen.
Ich bitte Dich nur, Dir selbst keine Vorwürfe zu machen. Du hast mir eine wahrlich gute Erziehung angedeihen lassen und mich zu einem guten Sohn gemacht. Bitte glaube nicht, dass ich nun aufgehört hätte, dies zu sein. Ich wünschte mir nichts so sehr, wie Dir begreiflich machen zu können, wie sehr in mir die Ideen brennen, die ich auf Leinwand bannen muss, all jene bunten Visionen exotischer und phantastischer Scheinwirklichkeiten, die in meinem Herzen und meinem Gemüt einen so ungeheuren Platz einnehmen. Bitte sei nicht enttäuscht von mir. Es ist wahrlich nicht so, dass ich dem Andenken meines Vaters untreu werden will, doch ich denke, dass wir uns vielleicht tatsächlich nicht sehr ähnlich sind.
Versuche, mich zu verstehen, liebe Mutter.
Ich werde Dich, was meine Fortschritte auf dem Weg zum erfolgreichen Künstler angeht, auf dem Laufenden halten. Ich werde meinen Weg
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