Jenseits des Karussells: origin - Preisgekrönt und aufregend anders (German Edition)
gehen? Oder soll ich Sie irgendwohin tragen?“
Wenn er sie trüge, wäre sie in seinen Armen. In diesen Armen wäre sie ausnehmend gerne. Unwillkürlich machte sie einen Schritt von ihm fort.
„Sehr liebenswürdig, Mylord. Doch glauben Sie mir, es ist nichts. Ich habe mich nur ein bisschen gestoßen – und ich bin ganz allein schuld daran. Es ist nichts.“
Er sah sie an, und sie suchte verzweifelt nach einem Weg aus seinem Blick.
„Das freut mich. Ich hatte schon Angst, Sie würden wieder ohnmächtig werden.“
Sie lächelte. Das zumindest war mit einem Mal ziemlich leicht.
„Ich werde selten ohnmächtig, Lord Edmond. Der kleine Schwindelanfall, dessen Zeuge Sie geworden sind, war recht untypisch. Bitte, möchten Sie nicht Platz nehmen?“
Er folgte ihrer einladenden Geste, wandte sich einem Stuhl zu, blieb aber stehen, bis sie saß.
Sie wusste nicht, was sie sagen sollte, hatte keinerlei Erfahrung darin, mit jungen Herren zu reden.
„Mögen Sie Beethoven?“, fragte sie, als ihr nichts anderes einfiel. Sie fragte sich, ob er wohl merkte, wie ungewohnt diese Situation für sie war. Im vergangenen Jahr hatte sie mit kaum jemandem von außerhalb des Haushalts gesprochen, war fast nie ausgegangen, hatte keinen der Gäste – offiziell – kennengelernt. „Mögen Sie Beethoven“ klang selbst in ihren Ohren recht abgedroschen. Aber vielleicht war es nicht das Schlimmste, das sie hätte sagen können.
Er lehnte sich eifrig vor und hielt ihren Blick mit seinen Augen.
„Aber ja“, versicherte er, „ganz besonders dieses Stück. Es ist so außerordentlich emotional.“
„Ich mag den ersten Satz am liebsten“, erwiderte sie und löste den Blick mühsam von ihm. „Er ist so romantisch und ein bisschen melancholisch. Man kann fast das Mondlicht sehen, in einem romantischen Tal …“ Ihr versagte die Stimme, und sie lief dunkelrot an. Er konnte Gott sei Dank nicht wissen, warum sie rot wurde, und erklären würde sie es ihm sicher nicht. „Sie waren letzte Nacht in meinen Träumen“ war nichts, das man einem männlichen Besucher sagen konnte.
„In der Tat“, pflichtete er ihr bei. „Eine passende Beschreibung. Obwohl ich gestehe, dass mir der dritte Satz noch besser gefällt. Er ist so voller Leidenschaft. Würden Sie ihn für mich spielen?“
Einen Moment lang war sie sprachlos, fragte sich, auf was er anspielen mochte. Dann wurde ihr klar, dass er nur eine ganz normale Frage gestellt hatte. Es konnte keine verborgene Botschaft darin enthalten sein, nichts, was nicht ihr eigener Sinn dazu interpretierte.
„Ich übe den Satz schon recht lange, aber ich fürchte, ich könnte nur eine sehr unvollkommene Interpretation anbieten. Ich kann ihn leider noch nicht fehlerfrei spielen.“
„Es ist auch nicht leicht, ihn fehlerfrei zu spielen“, sagte er lächelnd. „Der zweite Satz auch nicht.“
„Das stimmt“, entgegnete sie, „doch den mag ich nicht. Er ist so trocken und abgehackt und gar nicht romantisch.“
„Lassen Sie mich raten, Sie ignorieren ihn?“
„Wann immer es geht. Ich finde ihn außerordentlich langweilig.“ Sie lächelte ihn ein wenig schuldbewusst an.
„Das ist verständlich“, gab er ernsthaft zurück. „Man sollte seine Zeit nie mit etwas verschwenden, das man nicht schätzt. Zeit ist ein kostbares Gut.“
„Spielen Sie denn Klavier?“, fragte sie.
„Aber ja. Nur leider nicht besonders regelmäßig. Ich bin zu oft auf Reisen. Leute, die viel reisen, sollten besser Flöte lernen. Die kann man viel leichter transportieren.“
Sie lachte.
„Da haben Sie recht. Mit einem Flügel zu reisen erscheint mir durchaus umständlich. Wenn Sie gern mal spielen möchten, dann bitte, tun Sie es!“
Er lächelte, und sie fragte sich, ob sie das hätte wagen sollen. Doch anstatt höflich abzulehnen, wie sie es erwartet hatte, stand er auf, ging zum Klavier hinüber, setzte sich davor und begann, den dritten Satz der Mondscheinsonate zu spielen.
Der Klang erschallte mit spannenden Crescendos, wuchs mit jeder Note und wurde immer intensiver. Fast war er von physischer Beschaffenheit. Sie lehnte sich zurück und ließ das Konzert über sich hereinbrechen. Er war ein vorzüglicher Pianist. Vermutlich sogar der beste, den sie je gehört hatte. Er spielte das Stück genau wie sie es fühlte und wollte. Sie erkannte ihre eigenen verborgenen Gefühle darin wieder, jedes einzelne davon. Es klang ihr perfekt, denn geradeso hätte sie es gerne gespielt, wenn sie es nur vermocht
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