Jenseits des leuchtenden Horizonts - Roman
zusammengebunden, was sie viel jünger wirken ließ. Sie hätte das Mädchen von nebenan sein können. Auch an ihrem Verhalten hatte sich etwas verändert. Clementine wirkte selbstbewusster.
»Darf ich mich vorstellen«, sagte sie mit dem Anflug eines Lächelns und gab Jonathan die Hand. »Ich bin Carol-Ann Watson.«
»Freut mich, Sie kennenzulernen, Carol-Ann«, sagte er aufrichtig und mit anerkennendem Blick.
»Ich habe mein früheres Leben für immer hinter mir gelassen«, erklärte Carol-Ann.
»Das ist schön zu hören«, entgegnete Jonathan.
Nicht dass er glaubte, das Leben einer Prostituierten passte zu irgendeiner der Frauen, die auf den Opalfeldern von Coober Pedy ihrer Arbeit nachgingen, aber bei »Clementine« war es doch anders gewesen. Sie hatte es nicht wie ihre Kolleginnen geschafft, sich mit einem schützenden Panzer zu umgeben, sie hatte immer verletzlich gewirkt, als ob sie nicht nur ihren Körper, sondern auch ihre Seele verkaufte. Und es war genau so gewesen.
»Wie geht es Marlee?«, fragte Carol-Ann.
»Ihr geht es gut, ausgezeichnet sogar.«
»Lebt sie bei ihrer Aborigine-Familie?«
»Nein, bis jetzt noch nicht. Wir sind nach Alice Springs gekommen, um ihre Verwandten zu suchen. Erst waren wir am Ayers Rock, aber da sagte man uns, sie seien in der Gegend hier.«
Carol-Ann sah sich um. »Und wo ist sie jetzt?«
»Sie ist zu Hause.«
»Zu Hause? Wohnen Sie jetzt hier?«
»Nein. Wir wohnen bei den Edelsteinhändlern aus Coober Pedy. Sie machen hier ein wenig Urlaub. Ich bin heute in die Stadt gekommen, weil ich sehen wollte, um welche Uhrzeit der Prozess gegen Andro Drazans Mörder weitergeht. Ich will als Zeuge aussagen, wenn das möglich ist.«
»Oh«, meinte Carol-Ann. »Ich habe in der Zeitung davon gelesen. Ich bin wirklich froh, dass ich Sie treffe, Jonathan. Ichmöchte mich bei Ihnen dafür bedanken, dass Sie immer so nett zu mir waren.«
»Ach, das ist doch nicht der Rede wert«, winkte Jonathan ab.
»Doch, das denke ich schon. Sie hätten mich ja nicht so anständig behandeln müssen.« Dass kein anderer sie anständig behandelt hatte, sprach Carol-Ann nicht laut aus. Es war aber auch nicht nötig, denn im Allgemeinen gingen die Minenarbeiter mit den Prostituierten alles andere als höflich um. Sie schaute auf ihre Armbanduhr. »Haben Sie Zeit für eine Tasse Tee?«
»Ja, natürlich«, erwiderte Jonathan.
Sie gingen den kurzen Weg zu einem Café, vor dem man draußen im Schatten sitzen konnte. Es tat gut zu sehen, dass Carol-Ann nicht mehr so befangen war, dass sie auch keine Angst mehr davor hatte, ihn, Jonathan, durch ihre Gegenwart in Verlegenheit zu bringen.
»Wie schön, dass wir noch Gelegenheit haben, uns kurz zu unterhalten«, bemerkte Carol-Ann. »Ich wollte Ihnen längst schon einmal erzählen, wieso ich in Coober Pedy war und diese Arbeit da gemacht habe. Aber ich hatte nie den Mut dazu.«
»Sie schulden mir doch keine Erklärung«, sagte Jonathan nachdrücklich.
»Ich weiß, Sie müssen sich das dennoch schon gefragt haben.«
»Ich habe nur gefunden, dass Sie da nicht hingehörten«, gab Jonathan zu. »Sie wirkten immer so … so traurig und verletzlich.«
»Das überrascht mich nicht. Jeden einzelnen Moment meines Lebens dort habe ich verabscheut«, gestand Carol-Ann niedergeschlagen. »Ich war übrigens nicht zum ersten Mal in Coober Pedy«, fügte sie hinzu.
Sie sieht aus, als wäre sie gerade erst Anfang zwanzig, dachte Jonathan traurig. Wie furchtbar, dass sie womöglich schon als Teenager Prostituierte war.
»Vor fünf Jahren war ich dort mit meinem Mann. Er war Minenarbeiter.«
»Sie sind verheiratet!« Das verblüffte Jonathan.
»Ich habe Michael geheiratet, als ich kaum siebzehn war. Aber mit zwanzig war ich schon Witwe, mein Mann ist bei einem Unfall in der Mine umgekommen. Wir waren gerade erst sechs Monate in Coober Pedy, als Michael von ein paar Italienern angesprochen wurde, die eine große Mine hatten. Er sollte für sie arbeiten, sie boten ihm einen guten Lohn. Ich fand, dass er zu gefährliche Aufgaben verrichten musste. Michael vertraute jedoch immer allen. Er hatte sich vorgenommen, so viel Geld zu verdienen, dass wir nach Südaustralien an die Küste ziehen könnten. Er wollte so gern am Meer leben, unter einem weiten blauen Himmel. Stattdessen …« Carol-Anns Augen füllten sich mit Tränen. »Ich habe seine Asche, und eines Tages, wenn ich es mir leisten kann, fahre ich damit in den Süden und verstreue sie im
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