Jenseits des leuchtenden Horizonts - Roman
gestorben. Ich will wissen, wie der Stamm der Mutter heißt und wo ich die Leute finden kann. So kann ich vielleicht Verwandte der Kleinen aufspüren. Ich hoffe, die hiesigen Aborigines können mir helfen.«
Tommy blieb abrupt stehen. Jonathan spürte, dass er auf einmal nervös war.
»Wenn sie gestorben ist, dürfen Sie ihren Namen nicht laut aussprechen.«
Jonathan war verwirrt. »Wieso denn nicht?«
»Sobald ein Aborigine gestorben ist, darf man niemals mehr den Namen dieses Menschen aussprechen. Wenn man es dennoch tut, kommt sein Geist nicht zur Ruhe.«
»Wie kommen wir dann an Informationen über sie und ihren Stamm?«
»Wie heißt denn das kleine Mädchen?«
»Marlee.«
Tommy nickte. »Das genügt.« Sie gingen weiter auf das Lager zu.
Die Stammesmitglieder, junge Frauen, Kinder und Männer etwa in Tommys Alter, begrüßten ihn freundlich. Einer der Männer bot ihm selbst gekelterten Wein an, den er von einem Minenarbeiter als Gegenleistung für Fleisch bekommen hatte. Tommy lehnte ab, setzte sich aber mit einigen Männern ans Lagerfeuer und begann, sich mit ihnen zu unterhalten. Jonathan blieb im Hintergrund, wo die Frauen und Kinder saßen. Er fühlte sich unbehaglich, vor allem weil die Frauen ihm seltsame Blicke zuwarfen. Trotzdem versuchte er, freundlich zu erscheinen, indem er lächelte.
Zwischen Tommy und den Aborigines flogen die Worte wie Schnellfeuer hin und her. Immer wieder kam es zu heftigen Gesten, die Jonathan verwirrten. Dann mischte sich eine der Frauen in die Unterhaltung ein und zeigte auf Jonathan.
»Hat Marlee mit den Kindern hier gespielt?«, fragte Tommy.
»Ja«, antwortete Jonathan. »Sie ist aus der Schule weggelaufen und hierher gegangen.«
Tommy übersetzte, und es entspann sich eine weitere Diskussion.
»Sie kennen Marlees Mutter«, sagte Tommy zu Jonathan.
»Das ist gut, oder nicht?« Jonathan hoffte mehr denn je, die benötigten Informationen zu bekommen.
Nun stand Tommy auf. »Ich muss mit den Ältesten reden«, sagte er.
»Und wo sind die?«, fragte Jonathan.
»Nicht weit von hier. Wir gehen jetzt.«
»Weshalb müssen Sie mit den Ältesten reden?«, fragte Jonathan, als sie wieder durch die Dunkelheit marschierten. »Können uns denn die Leute, mit denen Sie gerade geredet haben, nicht weiterhelfen?«
»Nur die Ältesten haben die Informationen, die Sie benötigen«, sagte Tommy.
»Was hatten die Gesten zu bedeuten?«
»Es gab verschiedene Meinungen darüber, wo die Ältesten sein könnten.«
»Wie können Sie dann sicher sein, dass wir in die richtige Richtung gehen?«
Tommy blieb kurz stehen. »Ich bin sicher«, sagte er.
Er führte Jonathan über den Friedhof, der nachts besonders unheimlich war. Man konnte die weißen Steine, die die Gräber markierten, schemenhaft in der Dunkelheit erkennen. Sie überquerten den Stuart Highway, auf dem nur ab und zu ein Känguru umherhüpfte, und gingen auf der anderen Seite weiter in westliche Richtung, aufs offene Land. Bald war von der Stadt nichts mehr zu sehen. Eine große Wolke schob sich vor den Mond, und es wurde stockdunkel. Jonathan verlor die Orientierung. Er hatte das Gefühl, dass sie mehrmals die Richtung wechselten. Ihm war klar, er würde, sollte Tommy ihn allein lassen, nie mehr zurück in die Stadt oder zum Camp finden. Ein beunruhigender Gedanke.
Jonathan war ängstlich darauf bedacht, achtzugeben, wohin er im Dunkeln trat. Einmal wäre er beinahe gefallen – er war über einen Mulga-Strauch gestolpert, den er nicht gesehen hatte. Tommy schritt schnell voran, manchmal verlor er ihn kurz aus den Augen. Dann horchte er aufmerksam auf die Schritte des Aborigines, um zu wissen, in welche Richtung er gehen musste.
»Können Sie etwas langsamer gehen?«, rief er Tommy schließlich atemlos zu. Er hatte solche Angst, allein zurückzubleiben oder zu stürzen und sich die Knochen zu brechen. Als kein Laut zu hören war, geriet Jonathan in Panik. »Tommy? Tommy! Sind Sie noch da?« Er starrte in die Dunkelheit, hören konnte er jedoch nichts.
»Ja, ich bin hier. Wir sind fast da«, sagte Tommy.
Jonathan folgte dem Klang der Stimme. Als er aufgeholt hatte, gingen sie ein kurzes Stück zusammen. Wie aus dem Nichts kamein Lagerfeuer in ihr Blickfeld. Wie Tommy den Weg hierher hatte finden können, blieb Jonathan ein Rätsel.
Drei ältere Männer und vier alte Frauen saßen um das Feuer. Jonathan erkannte hinter ihnen einfache Behausungen im Lichtschein. Es roch nach angebranntem Fleisch.
»Warten Sie
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