Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Jenseits des Meeres liegt die ganze Welt

Titel: Jenseits des Meeres liegt die ganze Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Audur Jónsdóttir
Vom Netzwerk:
Friedenstruppen diejenigen bewachen, die in Kabul Leichen beseitigen.
    Die Nachrichtenflut sorgt dafür, dass ich mich verspanne, meine Schulter tut wieder weh, und ich atme: ein-aus-ein-aus-ein-aus-ein-aus, bis mein Atem die Schädeldecke berührt und mein Selbst bereit ist, es selbst zu sein. Es hat großen Hunger. Aber der Kühlschrank ist leer, und im Tiefkühler sind nur Innereien, die Mama im Herbst besorgt hatte und uns unbedingt schenken musste, obwohl ich sie angefleht hatte, sie möge das Zeug behalten. Ob Helgi Innereien eklig findet? Ich kenne ihn überhaupt nicht. In den drei Jahren, die ich mit Axel nun schon zusammenwohne, hat er ihn meist allein in Dänemark besucht, und die wenigen Male, die Helgi hier war, habe ich darauf geachtet, dass Vater und Sohn unter sich sein konnten. Vielleicht war das ein Fehler gewesen.
    Mag Helgi gebratene Innereien?, frage ich, als Axel endlich ans Telefon geht.
    Was? Du stellst vielleicht Fragen, keucht er, wie üblich in Eile. Ich weiß nicht, ob er so was schon mal probiert hat. Willst du wirklich Innereien für ihn kochen? Er wird sonst eher gesund ernährt, in Frederiksberg sind haufenweise Bioläden.
    Wir haben nichts im Kühlschrank, da habe ich gedacht, murmele ich und frage Axel dann, wann er nach Hause kommt. Er zögert, bevor er mir gesteht, dass sich das Wetter in den Westfjorden verschlechtert habe und er dort erst mal festsitze. Dafür erinnert er sich daran, dass irgendwo im Kühlschrank noch Pesto sein müsse und mit etwas Glück Spaghetti im Schrank. Ob ich da schon nachgesehen habe?
    Statt zu antworten, fällt mir die Gegenfrage ein: Wie kommt Helgi denn überhaupt hierher?
    Na, mit dem Taxi wahrscheinlich, seine Mutter fährt anschließend weiter zum Flughafen, bei den internationalen Flügen läuft offenbar alles normal, sagt Axel. Du wirst ja wahrscheinlich gar nicht mit seiner Mutter sprechen – aber wenn sie ihn zur Tür bringen sollte, musst du so tun, als ob ich jeden Moment nach Hause kommen werde. Sie darf auf keinen Fall erfahren, dass ich in Ísafjördur bin! Sie ist viel zu schwierig, als dass man ihr solche Dinge erklären könnte. Aber kümmere dich jetzt lieber um das Essen, Schatz, Helgi ist bestimmt bald da. Ich komme dann so schnell wie möglich nach Hause, hoffentlich schon morgen früh.
    Das heißt, du sitzt da auf jeden Fall erst mal fest?
    Sieht ganz danach aus. Leider.
    *
    Er steht draußen im Schneegestöber, hinter ihm verschwindet ein Taxi in der Dunkelheit. Klein in seiner bauschigen Winterjacke trägt er eine Schultasche in der einen und einen Rucksack in der anderen Hand; ein zehn Jahre alter Junge mit demselben Meeresblau in den Augen wie Axel, aber dem erdbraunen Haar seiner Mutter, schnurgerade, Topfschnitt. Guten Abend, Sunna. Schön, dich wiederzusehen, sagt er. Er spricht langsam, fast ältlich, mit starkem dänischen Akzent.
    Ich versuche, mich zu erinnern, wann wir uns das letzte Mal gesehen haben, doch ohne Erfolg. Eilig sammele ich ein paar Worte zusammen: Hallo Helgi, willkommen, ich freue mich auch, dass du mal wieder da bist … Brr, ist das kalt! Aber du hast Glück, drinnen gibt es heiße Spaghetti mit Pesto. Komm rein.
    Danke, gleich, sagt er. Kuck erst mal, was hier ist!
    Was?, frage ich zähneklappernd.
    Da ist ein totes Mäusebaby in eurem Garten.
    Wie bitte?
    Kuck mal hier. Er geht zur Seite und zeigt auf das Rasenstück vor unserem Reihenhaus. Auf dem gefrorenen Gras liegt ein steifes, bleiches Mäusejunges. Das Erste, an das ich denke, ist der Schwanz von Jordi, meinem Exfreund, als er in der Wintersonne von Barcelona nackt aus dem Meer kam, und ich halte mir die Hand vor den Mund.

2. Dezember
    WIR ESSEN CORNFLAKES mit Kefir, gähnen in unseren Schlafanzügen, mit zerzaustem Haar und Morgenlicht in den Augen. Ich nehme mir Puderzucker, Helgi lehnt dankend ab. Das Gebrabbel aus dem Radiowecker hat sich in unsere Träume gemischt, ohne sie zu zerreißen, so dass er nun zu spät zur Schule kommt und ich zu spät zur Arbeit. Trotzdem beeilen wir uns nicht: Sehen uns vorsichtig in die Augen in schweigender Übereinkunft darüber, dass die Fremdheit des jeweils anderen uns nicht davon abhalten soll, das Beste aus der Situation zu machen. Immer noch kein Lebenszeichen von seinem Vater, ich hoffe, dass er anruft, bevor Helgi sich traut zu fragen, wo er bleibt.
    Nach dem Nashorn aus dem Adventskalender wischt er sich die Schokolade aus den Mundwinkeln, ich hoffe, dass Zucker keine betäubende Wirkung auf so

Weitere Kostenlose Bücher