Jenseits des Meeres liegt die ganze Welt
gehe wieder ins Flughafengebäude rein, so, jetzt bin ich wieder drinnen. Die hatten schon die Propeller angeworfen und alles, wollten eine kleine Lücke in dem Unwetter nutzen, um zu starten, aber jetzt haben sie das wieder aufgegeben. Das Wetter spielt total verrückt und wird immer schlimmer – mit Helgi alles okay?
Klar, willst du mit ihm sprechen?, frage ich und sehe, wie der kleine Kerl in seinem schicken Schlafanzug auf einmal voller Leben ist. Doch sein Vater kann jetzt nicht sprechen, selbst mich versteht er kaum und trägt mir auf, Helgi von ihm einen Kuss zu geben und ihm zu sagen, dass er versuche, im Laufe des Tages einen Flug zu bekommen, bis dahin sei er im Hotel Ísafjördur. Wenn das Wetter so schlecht bleibe, würde er versuchen, sich etwas Billigeres zu suchen … nee, was zum Teufel ist denn jetzt los, da behauptet doch jemand, eine Lawine hat die Straße zum Flughafen verschüttet.
Dann ist er weg.
Entschuldigend sage ich Helgi, dass die Verbindung abgebrochen ist. Er lächelt schicksalsergeben. Wir stehen eine Weile still da, begutachten einander, Radiogebrabbel im Hintergrund, bis er fragt, ob ich es gerecht finde, dass eine Minderheit nun eine Mehrheit bilden wird. Ich grinse und sage, er klinge wie meine Mutter. Das Lächeln auf seinem Gesicht wird breiter, doch sein Blick wirkt nachdenklich, als er fragt, ob ich es gerecht finde, dass ich überhaupt nichts zu bestimmen habe.
Findest du denn, dass ich überhaupt nichts zu bestimmen habe?, frage ich.
Wir haben nichts zu bestimmen, sagt er in beruhigendem Ton und nimmt mein Angebot an, kurz ins Bad zu gehen.
*
Helgi planscht in der Badewanne wie ein Seehund, während ich den Computer anschalte und nach Neuigkeiten über Arndís suche.
Sie wird immer noch vermisst.
Als wir uns in Barcelona eine Wohnung teilten, hatte ich sie auch vermisst, in den wenigen Momenten, die wir nicht zusammen verbrachten. Jedenfalls anfangs war es so.
Manchmal verschwand sie für ein, zwei Stunden – sie genoss es sehr, durch die Straßen zu streifen, und kannte innerhalb kürzester Zeit die spannendsten Orte der ganzen Stadt. Ständig machte sie neue Entdeckungen und berichtete mir begeistert davon. Sie war es, die mir La Xampanyeria zeigte: Eine urige, heruntergekommene Imbiss-Bar, in der alte Männer in feinen Anzügen und Touristen mit Shorts gleichermaßen anzutreffen waren. Die Leute drängelten sich an dem mit Gläsern, Servietten und senfverkrusteten Töpfchen vollgestellten Bartresen, über ihnen ganze Schinken an Haken, und spülten Blutwürste mit Rosé-Sekt herunter.
Sie war es, die mir die Plaça del diamant im Stadtteil Gràcia zeigte, auf dem die Heldin aus dem gleichnamigen Buch von Mercè Rodoreda getanzt hatte, von Kopf bis Fuß in Weiß, und weder etwas von den Kindern ahnte, die sie bald bekommen sollte, noch von dem bald beginnenden Bürgerkrieg.
Sobald sie von einer neuen Attraktion gehört hatte, pilgerten wir hin: zur ältesten Absinth-Bar der Stadt mit Flaschen auf den obersten Regalen, die so alt waren, dass die Staubschicht auf ihnen einem schwarzen Wollvlies glich, zu einem Nachtklub in einem Labyrinth, zu einem Rave unter freiem Himmel am Strand und zu einer Transenbar, die aussah wie ein französischer Edelpuff und früher ein Treffpunkt für Männer war, die sich mit Knaben vergnügten. Sie wies mich auf prachtvolle Häuser hin, die wie Chamäleons getarnt in den Wohngebieten standen, auf den Einfluss von Gaudí im Straßenbild und die Grenzlinien zwischen den einzelnen Stadtteilen, dort, wo die engen Gassen auf breite Boulevards stießen. Kein verborgenes Kleinod entging ihrer Aufmerksamkeit, nicht das mit Mosaiken verzierte Fenster, aus dem ein hundertjähriger Mann kleine Bratfische verkaufte, und auch die Bibliothek nicht, in der es Zeitungen aus aller Herren Länder gab. Es zog sie in die Kaschemmen, in denen kettenrauchende Greise an Kaffee aus Gläsern nippten und ihren Blick hin und her schweifen ließen zwischen der derben Bedienung und den Kinderfilmen im Fernseher in der Ecke. Manchmal lud sie mich in die Oper oder ein off-Theater ein, denn sie verdiente sich etwas dazu, indem sie für isländische Zeitschriften über das Kulturleben Barcelonas schrieb. Artikel, die durch ihren sarkastisch-humorvollen Ton ungewöhnlich unterhaltsam waren. Ehrgeiz brannte in ihren grünen Augen, während sie schrieb. Er stand ihr gut.
Mit der Zeit wurde ich von ihr abhängig, war es leid, die Wochenenden allein in meinem
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