Jenseits des Meeres liegt die ganze Welt
ein Bio-Kind hat, doch wahrscheinlich ist es eher die Müdigkeit, die seine Sinne dämpft. Vielleicht waren Spaghetti so kurz vor dem Schlafengehen ein zu schweres Essen, auf jeden Fall war es eine unruhige Nacht gewesen. Ich wachte davon auf, dass Helgi schrie, sprang aus dem Bett und rannte ins Arbeitszimmer, wo ich ihn schweißgebadet auf unserem Schlafsofa fand.
Was ist passiert?
Ich habe schlecht geträumt, schluchzte er, das Haar komplett verschwitzt.
Was hast du denn geträumt?
Ich war irgendwo … und da war nichts als grauer Sand. Keine Bäume, kein Gras. Und irgendjemand war hinter mir her.
Ich fragte, ob das tote Mäusebaby schuld daran sei, dass er schlecht geträumt hatte. Helgi zuckte mit den Achseln, verwirrt und zerzaust, bevor er höflich darum bat, bei mir schlafen zu dürfen, er wäre auch ganz leise.
Natürlich, sagte ich und nahm seine Decke. Er schlich vor mir her, kletterte in mein Bett, trank etwas Milch aus dem Glas, das ich ihm gebracht hatte, und zog dann die Decke hoch bis zum Kinn. Danke, Sunna, sagte er. Jetzt soll ich gut schlafen.
Nun wirst du gut schlafen, berichtigte ich ihn leise. Wenig später schnarchte er.
Aber ich lag wach.
Und dachte an Arndís.
Eines Tages hatte sie im Seminarraum gesessen, kurz vor den Weihnachtsferien. Energisch, mit Strähnen in dem dunkelblonden Haar, der Pony reichte gerade an ihre moosgrünen Augen heran, die kokett und provokant zugleich waren; ihr Blick war alles andere als verträumt, eher aufgelöst, aufgewühlt. Schmale Zöpfe sprangen aus ihrer Pagenkopf-Frisur, wanden sich durch große, goldene Ohrringe und fielen auf ihre Schultern, die in einem olivgrünen Trägerkleid steckten und um die sie einen braunen Strickpullover gelegt hatte. Geriemte Ledersandalen ringelten sich bis zu den Waden hinauf.
Die spanische Sprache verknotete sich in meinem Mund, als ich sie begrüßen wollte, denn ich war mir sicher, dass sie aus Skandinavien oder Deutschland kam. Dann sagte sie auf Isländisch Guten Tag und lächelte auf ihre boshaft-charmante Weise, während sie mich in meinem Jeansrock und der lachsrosa Bluse betrachtete, mit dem silbernen Kreuz um den Hals. Ich wollte cool sein und setzte mich nicht auf den Platz neben ihr, nur weil wir aus demselben Land kamen, doch sie erwies sich als noch cooler und rückte einfach zu mir auf. Ich hatte nicht damit gerechnet, hier an der Uni jemanden aus Island zu treffen, und noch mehr wunderte ich mich darüber, wo sie auf einmal herkam, wenige Tage vor der Abschlussprüfung.
Arndís hatte bereits während des Abiturs Spanischkurse an der Uni in Reykjavík belegt, im Gegensatz zu mir, die ich nur ein bisschen Isländisch studiert hatte, bevor die Sehnsucht nach einer neuen Sprache mich ins Ausland trieb. Arndís war schon vor Weihnachten hergekommen, um eine Wohnung zu finden und hatte gefragt, ob sie schon jetzt am Unterricht teilnehmen dürfe, sie brannte darauf, ihre Vorkenntnisse anzuwenden. Bleibst du über Weihnachten hier?, fragte sie als Erstes.
Ja, sagte ich. Eigentlich wollte ich nach Hause, aber dann hat Mama beschlossen herzukommen. Wir feiern hier zusammen; das wird sicher schön, sie war noch nie am Mittelmeer.
Ist wohl vom alten Schlag?, kicherte Arndís, merkte, wie sehr mich das irritierte, neigte sich zu mir und flüsterte, dass ihre Eltern ganz genauso seien. Sie haben sich nie herausgetraut, und als sie dann doch einmal auf der Ringstraße um Island fuhren, haben sie sich fast den Hals verrenkt. Nun kicherte auch ich. Ohne Schuldgefühle. Dann vertraute ich ihr an, dass Mama bisher nur zwei Wochenendreisen gemacht habe, einmal nach Kopenhagen, um mir den Tivoli zu zeigen, und einmal mit den Arbeitskollegen nach Glasgow. Ja, ich hatte eine alte Mutter, und arm war sie obendrein. Für meine Verhältnisse war schon das eine ziemliche Offenbarung, doch es war noch gar nichts im Vergleich dazu, was ich Arndís in der nächsten Zeit alles anvertrauen würde, in den folgenden Wochen strömten die Worte geradezu aus mir heraus wie Weizenkörner aus einem eingerissenen Getreidesack. Ihre Leichtigkeit beflügelte mich, ich hätte nie gedacht, dass das jemandem gelingen würde. Mit ihr schien alles möglich, ganz im Gegenteil zu meiner Schulfreundin Björg, die mir so ähnlich war, dass sie meine Vorstellungen vom Leben nur bestätigte. Arndís konnte mit einem Wort dafür sorgen, dass Scham in lichterlohes Lachen aufging. Ihr feiner Humor inspirierte mich, mein Leben veränderte sich von
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