Jenseits des Meeres liegt die ganze Welt
dem Fenster steht ein kleiner Teetisch, dessen Platte ein Mosaik von einer glühenden Feuerkugel ziert. Darunter liegt eine geschlossene Reisetasche und auf dem Tisch eine Vase mit geschnitzten Blumen, ein summender Laptop, ein mit silberfarbenen Mustern bemalter Kaffeebecher, eine Fachzeitschrift aus der Kunstwelt und ein Papierstapel mit einem steinbesetzten Dolch als Briefbeschwerer.
Arndís zündet eine runde Kerze an und stellt sie auf den Tisch. Legt die Jacke über eine Stuhllehne und bietet mir einen Platz auf einer der Bänke unter den Kleiderhaken an. Was ich annehme. Dann sehen wir uns in die Augen.
Schön, dich zu sehen, trotz dieser widrigen Umstände, sagt sie und balanciert auf einem Drahtseil zwischen Aufrichtigkeit und Zynismus.
Geht mir genauso, sage ich bedrückt. Ich habe in letzter Zeit viel an dich gedacht.
Sie lächelt. Und ich habe manchmal an dich gedacht. Dich sogar manchmal vermisst. Soll ich uns Teewasser aufsetzen?
Ihre wiesengrünen Augen warten auf eine Antwort, gut geschminkt unter dem Haar, das sie, passend zu den Umständen, auf wild gestylt hat. Ich habe schon fast ihr Angebot angenommen, einen Tee zu schlürfen und über alte Zeiten zu quatschen, doch im letzten Moment fällt mir ein, dass ich deswegen nicht gekommen bin. Warum hast du dich denn nicht bei mir gemeldet, wenn du mich vermisst hast?, frage ich.
Warum hast du dich denn nicht bei mir gemeldet?, schießt sie zurück. Ich hatte gedacht, dass du dich spätestens nach Bennis Tod melden würdest.
Ich habe schon eine Bitte um Verzeihung auf den Lippen, als in meinem Kopf eine Alarmglocke schrillt. Und trotzdem hast du gehofft, dass ich das bleiben lasse, sage ich, merkwürdig selbstsicher. Du warst doch froh, dass ich aus deinem Leben verschwunden bin.
Wie meinst du das?
Du wusstest, dass ich sie erkennen würde. Wieso hat sie ihre Augen? Sie ist Fatima wie aus dem Gesicht geschnitten.
Arndís lächelt, so dass ihre Nase sich hebt, ihr amüsierter Gesichtsausdruck passt nicht zu dem Entsetzen in ihrem Blick. Ja, sagt sie geistesabwesend.
Ja, was?
Wir sollten diese Geschichte am besten ruhen lassen. Allen zuliebe. Insbesondere meiner Tochter zuliebe.
Ich will sie trotzdem hören, sage ich entschlossen. In den letzten Tagen wurde ich von fremden Männern verfolgt. Einer von ihnen sah so aus wie Fatimas Cousin aus dem Imbiss.
Sie wird bleich. Dich verfolgt?
Du musst mir sagen, was hier los ist. Warum versteckst du dich, während die Polizei nach dir sucht und Gardar außer sich ist vor Sorge?
Arndís lässt den Kopf sinken und fragt kleinlaut, ob ich Gardar getroffen hätte.
Ja, sage ich. Er hat große Angst um dich. Du musst ihm sagen, wo du bist.
Das kann ich nicht. Ich bin untergetaucht, als in den Nachrichten kam, dass diese drei Männer sich ins Land geschmuggelt haben. Sie sinkt in sich zusammen, die Worte schießen aus ihr heraus wie Raketen: Mir war sofort klar, wer diese Männer waren, sie haben vor meiner Galerie herumgestanden, und ich habe Fatimas Cousin sofort erkannt. Irgendwie müssen die es durch die Grenzkontrolle geschafft haben, obwohl die bestimmt auf irgendwelchen Fahndungslisten stehen, vielleicht hat einer von ihnen nicht einmal eine Aufenthaltsgenehmigung für Europa. Die Polizei muss davon Wind bekommen haben, da sie sofort die Fahndung eingeleitet hat. Ich habe der Polizei sogar selbst einmal von ihnen erzählt, kurz nach Bennis Tod, was ich wohl besser nicht getan hätte – aber auf der anderen Seite, wer glaubt schon den Aussagen von Verbrechern. Ich konnte einfach nicht klar denken, ich wollte unbedingt, dass die Mörder gefasst werden. Also habe ich ausgesagt, dass die Typen aus dem Imbiss die einzigen Marokkaner waren, mit denen Benni jemals zu tun gehabt hatte – ich habe mir eine Geschichte ausgedacht, wie sie über religiöse Themen in Streit geraten sind und Benni sie sich dadurch zu Feinden gemacht hat, denn ich war – und bin immer noch – überzeugt, dass sie schuld an seinem Tod sind.
Du hast die Polizei belogen?
Ich habe ihr geholfen. Leider gab es nicht genug Beweise, so dass die Männer untertauchen konnten – und niemand wollte es auf sich nehmen, nach ein paar Bergziegen zu suchen, die sich in Höhlen verstecken, ohne sich zu beklagen, sagt sie atemlos und zornig. Nun sind sie hier, um nach mir zu suchen. Und vielleicht auch nach Hera. Ich weiß nicht, ob sie wissen, dass sie am Leben ist. Die französische Freundin von Fatima, die ich in Tanger getroffen
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