Jenseits des Meeres liegt die ganze Welt
ein zerbrochener Blumentopf, den eine Windbö von der Fensterbank gefegt hat. Nirgendwo ein Zeichen von den fremden Männern.
9. Dezember
HELGI SCHLÄFT, ALS ich einen Zettel mit einer Nachricht auf den Nachttisch lege. Neben seinen Anziehsachen liegt das rote Malheft. Mich würde echt einmal interessieren, was er dort so alles hineinschreibt, ich habe mir noch gar nicht seine Krimigeschichte angesehen. Es tut mir leid, dass der arme Kerl bei mir sein muss.
Sein Vater nimmt nicht ab, als ich anrufe. Hoffentlich kommt er zurück. Komisch, dass Passagiere tagelang auf einen Flug nach Reykjavík warten müssen, die müssen doch mehrere Maschinen einsetzen, sobald sich das Wetter einen Moment beruhigt. Vielleicht ist das auch normal. Mama hatte mir von einem entfernten Verwandten erzählt, der einmal über Weihnachten in die Westfjorde geflogen war und erst im Februar zurückkommen konnte. Nun ist er ein Gemüsemogul in Uganda.
Ich muss meine Gedanken zügeln.
Mich konzentrieren.
Auf den Weg machen.
In stürmender Dunkelheit kreisen meine Gedanken um mich selbst. Ich tauche in den Orkan wie ein U-Boot in den Atlantik, verschwitzt in einer Daunenjacke und einem Fleece-Overall von Axel, die Wellen in meinem Magen höher als auf der Meerenge von Gibraltar, während der Wagen das Leben in meinem Bauch in den Schlaf wiegt. Na, na, nun schlaf mal, alles wird gut, genieße es, dich in einer Person zu verkriechen mit Fingern und Zehen, so wirst du auch einmal werden, hoffentlich, schlafe, mein Kindlein, schlaf ein.
Warum hat Hera ihre Augen? Ich wühle in mir, in uns beiden, in dem, was war. Irgendetwas weiß ich. Irgendetwas habe ich übersehen. Was finde ich denn in mir?
Erinnerungen.
Antworten?
Ich denke über Charaktere nach, ihre heimlichen Ziele, ihre Beziehungen zueinander, die Ereignisse damals und jetzt, unser Umfeld. Untersuche jedes Sandkorn. Wie Oddný es uns geraten hat: Ich muss nach einem Plot schürfen wie nach einem Goldklumpen, das Unwichtige aussieben. Bald bricht der Tag an. Die Sonne geht auf hinter den fliegenden Wolken. Sandstürme kommen von den Bergen. Und das Auto kämpft sich weiter Richtung Osten. Die stärksten Windböen wehen die Wolken von der Sonne fort, so dass sie mich blendet. Einmal hatte sie mich in einem anderen Land vor Liebe geblendet. Nun bringt sie ein zitterndes Herz zum Vorschein. Im Glasscherbenregen der Sehnsucht nach ihm, den ich zehn Jahre nicht gesehen habe. Mein lieber Jordi. Mein lieber, lieber, lieber Freund. Vergib mir, dass ich einfach so fortgegangen bin. Der Orkan schüttelt das Auto. Aber es bleibt auf der Straße. Ich komme voran. Starre auf die Straße.
Wenn sie fehlbar sein konnte, hätten ihre Ratschläge auch falsch sein können. Und damit mein Verhalten. Als ich die Welt mit ihren Augen sah. Mich weigerte, etwas zu sehen. Jordi! Wir schlenderten durch die Gassen von Barceloneta, an der Wohnung deiner Eltern vorbei. Eines Tages sollte ich sie kennenlernen, den sonnengebräunten Schlachter und die gedrungene Bäckereiverkäuferin, die nach frisch gebackenem Brot roch, sie würden mich wohlwollend aufnehmen. Ich schmunzelte bei dem Gedanken daran, dass sie Verwandte von mir sein könnten, denn mein Vater war wahrscheinlich auch in diesem Viertel aufgewachsen. Vielleicht kennen sie ihn ja. Wenn ich Mamas Augen hatte, wie waren dann wohl seine?
Ein Radiosprecher wiederholt die Sturmwarnung des Katastrophenschutzes. Die Leute werden gebeten, am Vormittag nicht das Haus zu verlassen. Der Bergpass an der Hellisheidi sei zu meiden. Ich fahre weiter. Die Morgennachrichten im Ohr. Ein Politiker sagt, dass es richtig sei, den Krieg zu unterstützen, da Island so ein kleines Land sei und auf das Urteilsvermögen größerer Nationen vertrauen müsse.
Seit wann haben Nationen ein Urteilsvermögen? Murmele ich und komme fast von der Straße ab.
*
Stokkseyri ist wie ausgestorben. Der Sturm heult um die Wellblechhäuser am Deich, Müll fliegt zwischen den Beton- und Holzhäusern herum, hier und da brennt ein Licht. Ich halte auf einem verlassenen Parkplatz vor dem alten Kühlhaus: einem großen Betonklotz, der nun ein Geistermuseum und eine Geisterbar beherbergt, so steht es zumindest auf einem verwitterten Schild. Ich sehe mich um, in einem nahe gelegenen Laden blättert die Verkäuferin über einer dampfenden Tasse Kaffee in einer Zeitschrift.
Vor einiger Zeit hatte meine Freundin Björg hier einmal einen Sommer lang im Hummerfang Geld verdienen wollen, aber nicht
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