Jenseits des Meeres liegt die ganze Welt
zu werfen. Eigentlich hatte ich gehofft, dass er mich hineinbittet, zumindest in den Eingangsbereich.
Morgen früh fahre ich zu einem Gespräch bei der Polizei – und das bei diesem Unwetter, sagt er nachdenklich. Das führt doch alles zu nichts. Wo ist Arndís da bloß hineingeraten? Ich verstehe das hinten und vorne nicht. Und am allerwenigsten verstehe ich Ihr Interesse an alldem, Sie haben Arndís doch jahrelang nicht gesehen.
Ich sehe mich gezwungen, ihn daran zu erinnern, dass ich von den Männern verfolgt werde, dass ich in letzter Zeit den Firmenwagen zweckentfremden musste, um ihnen aus dem Weg zu gehen. Ganz abgesehen davon jagten die Männer mich erst, seit wir uns im Hafencafé getroffen haben, so dass sie wahrscheinlich durch ihn auf mich gekommen seien. Gardars verständnisloser Blick lässt mich immer ungehaltener werden, doch alle Aufsässigkeit löst sich in Luft auf, als eine Kinderstimme ruft: Ist Mama wieder da?
Nein, mein Schatz. Das ist nur Besuch. Gardar dreht sich zu einem kleinen Mädchen um, das um die Ecke kommt, dünn, mit dunklen Locken, funkelndem Blick. Sie betrachtet den Besuch und lächelt, so dass sich tiefe Grübchen in ihren Wangen bilden. Im selben Moment weicht alle Kraft aus meinem Körper.
Ich kenne dieses Gesicht: diese Augen, dieses Lächeln.
*
Gardar ist erleichtert, als ich mich verabschiede, ruft mir einen Gruß hinterher, als ich die Treppen hinunterstapfe und die Auffahrt entlanggehe. Ich stolpere über die Steinplatten, bemühe mich, nicht loszuschreien, und halte mich am Kofferraum seines Mercedes fest. Blicke suchend in den Himmel, während ich mich wieder in den Griff bekomme, streichele den Kofferraum wie eine Katze, während mein Blick in das Innere des Autos fällt.
Auf dem Armaturenbrett liegen einige Broschüren. Ich gehe näher heran. Es sind Informationsbroschüren für Touristen mit Bildern von der isländischen Natur, Gletschern und Nationalparks. Auf einer sehe ich unscharf ein dunkles Gebäude. Ein Haus, das ich schon einmal gesehen habe. Nur wo?
Fragen prasseln auf mich ein, heftig wie ein Wolkenbruch.
Bin nur noch müde.
Als ich mich wieder in den Firmenwagen setze, sehe ich, dass Helgi eingeschlafen ist.
*
Ich bringe den Schlafwandler ins Bett, er reagiert kaum, als ich die Kleider von ihm pflücke und die Decke über ihm ausbreite.
Noch völlig in Gedanken, höre ich die vier Nachrichten auf meiner Handymailbox ab. Axel redet vom Wetter und von Weihnachtsbüchern in einer Hotelbar am Ende der Welt. Ich mache mir heiße Milch zur Beruhigung, setze mich mit der Tasse an den Computer. Wie kann das nur sein mit diesem … Kind? Ich sehe auf den Computer, kämpfe mit dem Drang, Antworten aus ihm herauszuprügeln, lege die Hände auf den Bildschirm wie auf die Kristallkugel einer Wahrsagerin. Der Sturm rüttelt an den Fenstern, das ganze Haus erzittert, lose Gegenstände fliegen draußen über den Rasen. Nichts kann mich ablenken. Irgendwo muss Arndís doch sein, lebendig oder tot, wenngleich ich sehr zu Ersterem neige. Ich sehe mir wieder und wieder ihre Homepage an. Ohne Erfolg. Wenn es hier irgendwelche Hinweise gibt, bin ich zu müde, um sie zu finden. Sie ist viel zu clever, um sich finden zu lassen.
Ich gebe es auf. Während ich mir das Nachthemd anziehe, nehme ich mir fest vor, die Brüder morgen um einen Lohnvorschuss zu bitten, damit ich für Helgi etwas zum Anziehen kaufen kann. Werde ich eine Mutter, die vergisst, ihrem Kind etwas zum Anziehen und zum Essen zu geben? Ich muss Geld auftreiben. Was auch passiert. Ich muss mein Leben in den Griff bekommen. Ich zucke zusammen, als mir ein Licht aufgeht:
Die Kulturzentren auf dem Land!
Natürlich, murmele ich und hechte zurück an den Computer. Rufe ihre Homepage auf, klicke auf Zukunft und beiße mir auf die Unterlippe. Natürlich, natürlich, natürlich.
Auf dem Monitor erscheinen stillgelegte Fabriken irgendwo auf dem Land. Eine Kieselgur-Fabrik im Mývatnssveit, die zu einem Kulturzentrum ausgebaut wurde. Eine Transchmelze in den Westfjorden, die gerade zu demselben Zweck gekauft worden ist. Und ein ehemaliges Kühlhaus in Stokkseyri, in dem sich momentan noch ein Geistermuseum befindet, das Arndís aber auch zu einem Teil ihrer Kette von Kulturzentren im ganzen Land machen will.
Das Haus auf dem Foto in dem Mercedes.
Ein klirrendes Geräusch reißt mich aus meinen Gedanken. Mein Blutdruck schießt in die Höhe, ich stürze ins Wohnzimmer. Draußen vor der Terrassentür liegt
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