Jenseits des Meeres
Lichtung. Er beabsichtigte, die Hirschkuh mit ihren Kitzen unbehelligt vorbeizulassen und dann den Bock zu erlegen, der die Nachhut bildete. Dessen Fleisch würde ihn und Colin auf der bevorstehenden langen Reise ernähren. Der Gedanke an seinen geschwächten Bruder gab ihm neue Kraft. Colin vertraute ihm, dass er sie sicher heimbrachte. Kieran wollte ihn nicht enttäuschen.
Plötzlich hob das Hirschrudel aufgeschreckt die Köpfe. Durch die Sträucher sah Kieran, was die Tiere alarmiert hatte: Zwei Reiter kamen über eine Weide auf den Wald zu. Enttäuschung durchfuhr ihn. Er war so nahe daran gewesen, Nahrung zu beschaffen. Der Hunger nagte sehr an ihm. Er umklammerte die hölzerne Waffe und lauschte angestrengt.
„Meinst du nicht auch, dass es hier Wild im Überfluss gibt?“ Kieran beobachtete den Burschen, dessen Stimme der Wind zu
ihm herübertrug. Obwohl der junge Mann hoch gewachsen und muskulös war, bezweifelte Kieran nicht, dass er ihn im Kampf besiegen würde. Dessen jugendlicher Eifer wäre gewiss ein Vorteil gewesen, würde Kieran nicht von etwas weit Bezwingenderem angetrieben - von seiner Verzweiflung.
„Du hast Recht“, meinte Megan und klopfte an die Jagdtasche, die an ihrem Sattel baumelte. „In der letzten Stunde haben wir mehr Wachteln und Tauben gefangen, als ich oft an einem ganzen Tag erblicke.“
Während sie ihre Pferde weiter über die Wiese lenkten, guckte Megan kurz über die Schulter. „Halte Ausschau nach den MacDougals. Dies hier ist zwar ein freies Land, doch die MacDougals betrachten es seit langem als ihres und lassen es auf ein Gefecht ankommen, falls sie uns dabei ertappen, wie wir hinter dem Wild her sind.“
Die beiden sind also ebenfalls Wilddiebe, dachte Kieran und behielt die junge Frau im Auge. Aus dieser Entfernung sah er, dass sie wie ein Mann ritt. Das Gewand war gerafft und zeigte sonnengebräunte, wohlgeformte Beine. Es schimmerte in einem Bernsteinton, der die Sonnenstrahlen einfing. Das geschnürte Mieder schmiegte sich an ihre hohen Brüste und die schmale Taille. Das volle weizenblonde Haar wippte um ihre Schultern.
Jamie tastete nach seinem Säbel. „Wenn die MacDougals ein Gefecht wünschen, will ich ihnen nur zu gern den Gefallen tun.“
Der Wind trug Megans Gelächter heran. „Brice hatte Recht. Beim Gedanken an einen Kampf gerät dein Blut ebenso in Wallung wie meines.“
Kieran in seinem Versteck lauschte dem Lachen dieser Frau. So etwas Wundervolles hatte er schon lange nicht mehr gehört. Einen Moment lang regte sich etwas in seinem Herzen, das schon längst gestorben zu sein schien. Er hatte schon gefürchtet, das Jahr im Fleet-Gefängnis hätte alles Menschliche in ihm ausgelöscht.
Jamie schnaubte ärgerlich. „Jemand muss doch auf ein Gefecht vorbereitet sein. Deine Schwester hat dem armen Brice so sehr den Kopf verdreht, dass er jetzt lieber vor dem Feuer liegt und seine Kinder auf den Knien schaukelt, statt sich den Pflichten eines Kriegers zu widmen.“
„Gewiss, doch du solltest dankbar sein, dass die Alten bereit sind zurückzutreten und es uns damit ermöglichen, den uns zustehenden Platz einzunehmen.“
„Alt - Brice?“ Jamie warf den Kopf zurück und wollte sich aus-schütten vor Lachen. „Lass ihn das nur nicht hören, denn sonst dreht er dir dein hübsches Hälschen um!“
„Du weißt doch, wie ich es meine.“ Megan schaute Jamie von der Seite an. „Wenn die Leute sich verlieben, geschieht etwas Schreckliches mit ihnen. Du brauchst dir doch nur Brice und Meredith anzusehen. Die beiden haben sich in ein glückliches Paar verwandelt. Und guck dir an, was Brenna aus Morgan Grey gemacht hat. Der verbringt jetzt zwei Wochen auf unserem Anwesen und verhält sich seiner Gattin gegenüber wie eine fürsorgliche Glucke.“
„Das stimmt.“ Jamie erwiderte Megans Blick. „Es zerreißt mir fast das Herz, wenn ich sehe, wie ein gestandener Krieger wie Brice Campbell Spucke von einem Babykinn wischt und vom Frieden mit den Feinden redet.“
Jamies zutreffende Beschreibung brachte Megan wieder zum Lachen. Der gute Jamie! Sie verstand ja seine Enttäuschung, und er war auch der Einzige, der sie verstand. Sie warf erneut einen Seitenblick auf den stolzen Mann an ihrer Seite und versuchte sich ihn als den Burschen vorzustellen, den sie vor Jahren gekannt hatte.
Damals war er ein schlaksiger Junge mit einer leuchtend roten Haarmähne gewesen. Jetzt, ein paar Jahre später, waren seine Schultern so breit, wie ein Schwert lang war,
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