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Jenseits des Mondes

Jenseits des Mondes

Titel: Jenseits des Mondes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heather Terrell
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wir zu spät zu Englisch. Ruth und ich waren die Letzten und wurden von Miss Taunton persönlich an der Tür empfangen. Allerdings nicht mit einem Handschlag oder einem freundlichen Lächeln. Sie streckte lediglich die Hand aus und sah uns auffordernd an. Ruth riss daraufhin sofort den Reißverschluss ihres Rucksacks auf und reichte ihr etwas.
    »Und was ist mit Ihrem Aufsatz, Miss Faneuil?«
    Aufsatz? Was für ein Aufsatz? Ich musste in den letzten Tagen wohl zu sehr damit beschäftigt gewesen sein, die Übergriffe gefallener Engel abzuwehren und die drohende Apokalypse zu verhindern!
    Schlagartig wurde mir klar, wie lächerlich dieses ganze Theater war. Ich war so wütend. Wütend und verwirrt.
    Was Miss Taunton nicht entging. »Sagen Sie nicht, Sie haben Ihren Aufsatz über Charlotte Brontë vergessen?«, fragte sie mit einem Frohlocken in der Stimme.
    Im Klassenzimmer wurde es mucksmäuschenstill, und ich hätte schwören können, dass einige Schüler schadenfroh kicherten. Miss Taunton hatte die Hand immer noch ausgestreckt. Sie machte einen Schritt auf mich zu und tippte mir ungeduldig mit dem Finger auf den Handrücken.
    »Ihr Aufsatz, Miss Faneuil. Ich warte!«
    Wie von selbst fasste ich ihre Hand. Ihre Finger vibrierten unter meiner Berührung. Gut möglich, dass sie danach noch mehr sagte, aber ich hörte nichts mehr. Gut möglich, dass meine Mitschüler immer noch über mich lachten, aber ich nahm es gar nicht wahr. Eine unglaublich heftige Vision direkt aus Miss Tauntons Kopf überrollte mich.
    »Geh nicht, George, ich beschwöre dich!«, flehte sie verzweifelt. An ihrer Stimme konnte ich erkennen, dass sie noch jung war, vielleicht um die zwanzig.
    Ich sah ihre manikürten Finger, die sich in das Hemd eines jungen Mannes krallten. Er sah aus wie ein typischer Intellektueller, hatte unauffällige dunkelblonde Haare, hängende Schultern, aber überraschend seelenvolle braune Augen. Er wirkte traurig, aber entschlossen.
    »Eleanor, ich halte deine ständige Eifersucht und deine Negativität einfach nicht länger aus. Ich habe beschlossen, meine Chance zu nutzen und in Deutschland bei Professor Liebherr zu studieren. Wir müssen beide nach vorn schauen. Glaub mir, es ist das Beste so.«
    »George, bitte! Ich kann mich ändern. Ich weiß, dass ich es kann, ganz bestimmt!«
    George löste ihre Finger von seinem Hemdkragen. »Auf Wiedersehen, Eleanor. Ich wünsche dir alles Gute.«
    Eine Reihe von Bildern folgte. Ich sah, wie Eleanor Taunton, nachdem besagter George sie verlassen hatte, den hoffnungsvollen jugendlichen Teil ihrer Persönlichkeit wegschloss und verleugnete. In den langen, einsamen Jahren, die auf die Trennung folgten, nahm ihre Bitterkeit immer mehr zu, bis sie ihr zu einer Art Sucht wurde – eine Sucht, die sie mit ihrem Hass auf die Jugend im Allgemeinen und auf ihre jungen Schüler – wie mich – im Besonderen zu befriedigen versuchte.
    Als ich die Augen aufschlug, spürte ich wieder diesen seltsamen Guter-Samariter-Impuls in mir. Ich hatte schon gedacht, er wäre mir unterwegs abhandengekommen. Vielleicht konnte ich Miss Taunton helfen, ihr Leben umzukrempeln, bevor es zu spät war. Was hatte ich schon zu verlieren?
    Auch wenn es mich große Überwindung kostete, beugte ich mich ganz dicht zu ihr. Dann flüsterte ich so leise, dass die anderen es nicht hören konnten: »Eleanor.« Es kam mir ganz natürlich vor, sie beim Vornamen zu nennen, nachdem ich sie in der Stunde ihrer größten Verletzlichkeit erlebt hatte. »Ich weiß, dass Sie gelitten haben, und ich verstehe Ihren Schmerz. Aber wenn Sie sich an die Vergangenheit und an Ihre Bitterkeit klammern, werden Sie nie den Frieden finden, nach dem Sie sich sehnen. Oder das Leben, das Sie sich so sehr wünschen.«
    Ihre Augen weiteten sich vor Schreck, dann füllten sie sich mit Tränen. Aus langer Gewohnheit heraus flüchtete sich Miss Taunton – Eleanor – in Verachtung. Sie zischte mir zu: »Ich habe nicht die geringste Ahnung, wovon Sie reden, Miss Faneuil, aber wenn Sie glauben, dass Sie sich auf diese Weise eine Verlängerung der Abgabefrist für Ihren Aufsatz erschleichen können, dann täuschen Sie sich. Und für Sie bin ich Miss Taunton, nicht Eleanor.«
    Ich griff ihre Hand noch fester. »Ach, Eleanor. Der Aufsatz ist mir doch völlig egal. Geben Sie mir eine Sechs, wenn Sie wollen. Ich möchte Ihnen helfen.«
    Ihre Stimme troff vor Hohn, als sie, genauso leise wie zuvor, antwortete: »Mir helfen? Das ist drollig, Miss

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